Hans Jørgen Wiberg
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„Erfindet nicht für uns, sondern mit uns!“ Gestaltung digitaler Lösungen zur Inklusion von Menschen mit Sehbehinderung

1 June 2023
Technologie kann für jeden ein Segen und ein Fluch sein, und Menschen mit Sehbehinderungen bilden da keine Ausnahme. Hans Jørgen Wiberg lebt mit einer Sehbehinderung und ist ein leidenschaftlicher Erfinder von inklusiven und barrierefreien digitalen Lösungen. Darunter ist eine Anwendung, die weltweit über 500 000 blinde oder sehbehinderte Menschen über einen Live-Videoanruf mit sehenden Freiwilligen verbindet. 

Not macht erfinderisch 

Hans hat Retinitis pigmentosa, eine genetisch bedingte Krankheit, die zu einem allmählichen Sehverlust führt. Er wurde zwar mit einem guten Sehvermögen geboren, aber dann war es seine Nachtsicht, die zuerst beeinträchtigt wurde. In seinen Zwanzigern begann sein peripheres (seitliches) Sehvermögen nachzulassen, und sein Sichtfeld hat sich seither immer weiter verengt. Außerdem ist Hans schwerhörig und benutzt Hörgeräte. 

Hans begann sein Arbeitsleben als Landwirt in Dänemark. „Ich musste innovativ sein“, sagt er. „Das Wetter, der Gesundheitszustand der Herde, die Verfügbarkeit von Personal, die Vorschriften, alles änderte sich ständig. Um als Landwirt erfolgreich zu sein, musste ich mich täglich anpassen und Neuerungen einführen.“ Hans engagierte sich für den dänischen Blindenverband, und als Smartphones sich nach und nach durchsetzten, hatte er eine Idee. Eine App könnte es blinden und sehbehinderten Menschen ermöglichen, per Videoanruf sehende Freiwillige einzuschalten. Diese Freiwilligen könnten beschreiben, was die Nutzer nicht sehen können, und ihnen zum Beispiel helfen, ein T-Shirt mit einer bestimmten Farbe auszuwählen oder einen Straßennamen zu lesen, während sie durch die Stadt navigieren. „Ich habe meine Idee 2012 getestet, indem ich meine erwachsene Tochter angerufen und sie gebeten habe, mich durch das Haus zu führen. Und es hat funktioniert“, erinnert sich Hans mit einer Begeisterung, die einfach ansteckend ist. 

„Diese Waschmaschine ist für Blinde unmöglich zu bedienen!“

Seitdem arbeitet Hans eng mit Nutzern und Entwicklern zusammen, und hat die Idee zu einem weltweiten Erfolg gemacht, der in 185 Sprachen verfügbar ist und von Menschen unterschiedlichen Alters mit verschiedenen Arten und Graden von Sehbehinderung und unterschiedlicher Geübtheit im Umgang mit Technologie genutzt wird. „Ich sage: ,Erfindet nicht für uns, sondern mit uns!‘ Nicht alle blinden Menschen tragen dunkle Sonnenbrillen oder haben ein übernatürliches Hörvermögen. Es gibt nicht den einen blinden Menschen, und die Lebenserfahrung eines Menschen umfasst viel mehr als nur sein Sehvermögen. Erfinder müssen sich dessen bewusst sein, dass Blindheit ein Spektrum ist, und es gilt, digitale Gesundheitslösungen zu entwickeln, die für möglichst viele Menschen in diesem Spektrum funktionieren. Die enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Nutzerorganisationen auf der ganzen Welt macht eine gemeinsame und nutzerorientierte Gestaltung möglich. 

Indem er sehende Freiwillige mit blinden oder sehbehinderten Menschen zusammenbringt, hat Hans auch erlebt, wie Menschen zu Botschaftern für die Inklusion von Blinden wurden. „Wir haben über sechs Millionen Freiwillige. Die meisten Leute haben bei ihrer Anmeldung noch nie einen blinden Menschen getroffen“, erklärt er. „Wenn ein Freiwilliger seinen ersten Videoanruf erhält, erkennt er aus erster Hand die Barrieren, die die Inklusion einschränken. Dann sagt er: „Diese Waschmaschine ist für Blinde unmöglich zu bedienen!“, und diese Erkenntnis ist ein Schritt hin zu einer stärker inklusiven Gesellschaft.“ 

Innovative digitale Gesundheitslösungen und Barrierefreiheit

Hans gehört zu den ständig Beschäftigten, die nie ruhen. Zusammen mit seiner Frau restauriert er klassische dänische Möbel und erweckt beispielsweise zeitlos gestaltete Stühle zu neuem Leben. In seine App hat er bereits Künstliche Intelligenz integriert, um sie für diejenigen zugänglich zu machen, denen es vielleicht unangenehm ist, mit Freiwilligen zu sprechen, die ihnen fremd sind. Für die Zukunft hofft er, eine Lösung speziell für Menschen mit Taubblindheit zu entwickeln. Ein weiterer ausbaufähiger Bereich ist inklusive Bildung, da den Lehrern an Regelschulen, die es meist gut meinen, möglicherweise das Wissen und die Mittel fehlen, um blinde oder sehbehinderte Schüler zu unterstützen. Hans möchte eine Online-Plattform für gegenseitiges Lernen entwickeln, mit der Menschen mit Sehbehinderung grenzüberschreitend voneinander lernen können. 

„Die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen wie Abstandhalten und das Vermeiden von Berührungen im öffentlichen Raum haben blinden Menschen das selbständige Einkaufen sehr erschwert. Aber Künstliche Intelligenz beinhaltet ein großes Potenzial für das Navigieren auf Websites“, sagt Hans. „Bisher wird eine blinde Person, die versucht, online einzukaufen, oft mit verschiedenen Beschriftungen konfrontiert, die der Bildschirmleser einfach als ,Knopf, Knopf, Knopf‘ identifiziert. Die betreffende Person klickt dann oft nichts an, aus Angst, etwas Falsches zu kaufen. In Zukunft wird Künstliche Intelligenz die Bilderkennung nutzen, um den Bildschirm, einschließlich der Knöpfe, zu beschreiben. Mit Sprachbefehlen können blinde Nutzer ein barrierefreies und inklusives Online-Shopping genießen.“ 

Durchgehende Berücksichtigung von Inklusion

In der Europäischen Region der WHO leben etwa 90 Mio. Menschen mit einer Sehbehinderung oder Erblindung. Diese Erkrankungen sind in allen Mitgliedstaaten der WHO verbreitet, unabhängig von der demografischen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung und ihren Gesundheitssystemen. WHO/Europa unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Eingliederung der Augenheilkunde und Optometrie in die nationalen Gesundheitssysteme. Im Handlungsrahmen der WHO zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gesundheit für Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Region (2022–2030) werden die Mitgliedstaaten zu einer durchgehenden Berücksichtigung von Inklusion aufgerufen, u. a. durch Bereitstellung von Informationen in Formaten, die für Menschen mit Sehbehinderungen zugänglich sind.

„Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln mit Hilfe digitaler Gesundheitsangebote“ ist eine der Flaggschiff-Initiativen von WHO/Europa; sie ergänzt die Globale Strategie der WHO für digitale Gesundheit, indem sie Lücken in den Rahmenkonzepten für die Digitalisierung in der Europäischen Region füllt, die bisher eine durchgängige Einführung innovativer digitaler Lösungen behindern. Der Aktionsplan zur Förderung der digitalen Gesundheit in der Europäischen Region der WHO (2023–2030) soll die Länder dabei unterstützen, die digitale Umgestaltung der Gesundheitssysteme zielführend zu nutzen und auszuweiten.