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Esmas Weg: ein Schritt nach dem anderen

3 December 2025
Jeden Tag kämpft sich Esma durch die belebten Straßen von Tiflis (Georgien), einer Stadt voller Autos und unebener Bürgersteige. Geleitet nicht von ihren Augen, sondern vom gleichmäßigen Rhythmus ihres weißen Stocks – und von ihrem Selbstvertrauen –, schreitet sie entschlossen voran. Für Esma ist der Stock nicht nur ein Werkzeug, sondern ein Symbol für Unabhängigkeit, Mut und Widerstandskraft.

„Für eine Person mit Sehbehinderung kommt es entscheidend darauf an, dass sie sich mit dem weißen Stock fortbewegen kann“, erklärt sie. „Es beginnt mit kleinen Schritten auf dem Hof, dann auf der Straße, dann Busfahren, Metro, die wichtigsten Besorgungen erledigen und so weiter.“

Von Sehbehinderung und Erblindung sind Menschen überall betroffen, auch in Ländern mit mittlerem Einkommen wie Georgien. Vor allem in ländlichen und unterversorgten Gebieten gibt es nach wie vor Lücken beim Zugang zur augenärztlichen Grundversorgung und zu entsprechenden Hilfsmitteln. Allein in Georgien sind nach Schätzungen etwa 696 000 Menschen in irgendeiner Form sehbehindert, und etwa 21 000 leben mit einer völligen Erblindung.

Auf Wahlmöglichkeiten kommt es an

Esma ist eine der wenigen in ihrer Gemeinschaft, die mit Hilfe von assistiven Technologien ein unabhängiges und würdiges Leben führen können. Ihr Weg war nicht einfach, aber er war von wichtigen Meilensteinen geprägt: Sie verbrachte ein Jahr als FLEX-Schülerin (Future Leaders Exchange) in den Vereinigten Staaten, wo sie eine reguläre öffentliche Schule besuchte und ein Praktikum bei einer Lobbyorganisation absolvierte. Bei ihrer Rückkehr war sie noch entschlossener und setzt sich seitdem für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein.

Für Esma beginnt die Unabhängigkeit schon früh. „Eines der wichtigsten Themen ist das Erlernen grundlegender Fähigkeiten von Anfang an“, erklärt sie. „Ich möchte alle Eltern, die gerade erst von der Sehbehinderung ihres Kindes erfahren haben, auffordern, in die Vermittlung von Fähigkeiten zu investieren und sie zu selbständigen Menschen zu erziehen.“

Sie fügt hinzu: „Das ist hart, aber notwendig. Langfristig wird dies auch den Bedarf an persönlichen Betreuern verringern, der oft eine große Belastung für den Staat darstellt, sowohl finanziell als auch in Bezug auf die Verfügbarkeit.“

Die Wahlmöglichkeit ist ihrer Meinung nach ebenso wichtig wie der Zugang. „Weiße Stöcke gibt es in verschiedenen Größen und Formen. Manche lassen sich verlängern, andere sind besser für den Winter geeignet; manche eignen sich besser für Spaziergänge auf Gras, und andere sind besser für die Fortbewegung in der Stadt. Je nach den individuellen Bedürfnissen ist es wichtig, Wahlmöglichkeiten zu haben. Deshalb setze ich mich auch für eine Kofinanzierung ein, falls die staatlichen Mittel nicht ausreichen, um eine breite Auswahl an weißen Stöcken bereitzustellen.“

Auf Sensibilisierung kommt es an

Um sicherzustellen, dass den Nutzern geeignete Optionen zur Verfügung stehen, treibt die WHO gemeinsam mit ATscale, der Globalen Partnerschaft für assistive Technologien, die Entwicklung von Spezifikationen für verschiedene assistive Produkte, insbesondere weiße Stöcke, voran, um diese sicher, funktional und bedarfsgerecht zu machen. Esma beteiligt sich zusammen mit anderen Aktivisten und maßgeblichen Interessengruppen aktiv an diesem Prozess.

Doch Werkzeuge und Fähigkeiten allein reichen nicht aus. Denn mangelndes Verständnis in der Öffentlichkeit kann das tägliche Leben erschweren. „Die Leute wissen im Allgemeinen nicht, wie sie sich gegenüber Menschen mit Sehbehinderungen verhalten sollen“, gibt Esma zu. „Ich selbst habe zwar keine negativen Vorfälle erlebt, aber manchmal unerwünschtes Mitleid oder unerwünschte Berührungen. Auf Sensibilisierung kommt es an.”

Esmas Geschichte ist mehr als eine Geschichte persönlicher Widerstandsfähigkeit – sie ist ein Aufruf zum Handeln. Mit ihrem Einsatz erinnert sie uns daran, dass das Recht auf ein Unabhängigkeit und auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch den Zugang zu geeigneten Produkten, Schulungen und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit unterstützt werden muss. 

Wenn assistive Technologien, Kompetenzentwicklung und ein inklusives Umfeld zusammenkommen, können Menschen mit Sehbehinderungen voll und ganz an Bildung, Berufswelt und gesellschaftlichem Leben teilhaben, so wie Esma es jeden Tag tut, einen Schritt nach dem anderen.