Gulnar Sagiyeva hat einen schweren Weg hinter sich: Nach einer psychischen Krise wurde sie rechtlich entmündigt und verbrachte zehn Jahre in einer spezialisierten psychiatrischen Langzeiteinrichtung. Diese Geschichte basiert auf ihren Erinnerungen.
„Ich bin in einer normalen Großfamilie in Kasachstan geboren und aufgewachsen. Ich habe Abitur gemacht, Medizin studiert und mich zur Krankenschwester ausbilden lassen. Ich habe zehn Jahre lang in einem Forschungszentrum auf der Intensivstation für Neugeborene gearbeitet. Dort gehörte ich zu den fähigsten Fachkräften. Ich wurde für meine Beiträge zur Weiterentwicklung des nationalen Gesundheitswesens gewürdigt und für meine Leistungen mit der Florence-Nightingale-Medaille ausgezeichnet. Leider hatte ich keine Zeit, um mich über diese Auszeichnungen zu freuen.“
Vor etwa 20 Jahren bat Gulnars Familie ein psychiatrisches Team um Hilfe bei der Bewältigung ihrer sich verschlimmernden psychischen Symptome. Damals wurde sie mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen. Schließlich wurde ihr nicht mehr zugetraut, ihre eigenen juristischen Entscheidungen zu treffen.
„Als ich begriff, was geschehen war, fühlte ich mich hoffnungslos – und machtlos. Ich habe so viel Schmerz und so viele Missverständnisse erlebt, aber trotz der Situation habe ich immer versucht, aktiv zu sein und den Menschen zu helfen, indem ich mein Wissen und meine Erfahrung aus dem medizinischen Bereich einbringe. Es gab Zeiten, in denen ich den Mut fand, Pflegekräften Ratschläge zu erteilen und sie zu ermutigen, auch zu Psychologen zu werden, wenn ein Patient einen Rückfall erleidet, und zu versuchen, ihre Perspektive zu verstehen, anstatt sie zu ignorieren. Ich stelle mich auf ihre Seite und versuche, sie zu beruhigen.“
Der Weg zur Genesung
Während ihres Aufenthalts in der Psychiatrie blieb Gulnar aktiv. Als erfahrene Strickerin begann sie, anderen Patientinnen handarbeitliche Fähigkeiten zu vermitteln. Außerdem spielte sie eine aktive Rolle bei der Organisation von Konzerten und Tanzveranstaltungen. Ihre Arbeit veranlasste die Leitung der Langzeiteinrichtung dazu, weitere Freizeitclubs zu gründen und Ergotherapieräume einzurichten, in denen Therapeuten und Kulturveranstalter ihre Dienste anbieten können.
„Aber das passierte alles hinter verschlossenen Türen, wie in einer anderen Welt“, meint Gulnar. „Wir hatten das Gefühl, anders zu sein. Ich weiß nicht, ob das so war, aber damals sah ich keinen Sinn darin, etwas zu tun. Ich verstand nur, dass es zwecklos war, die Hand auszustrecken. Ich fühlte mich allein.“
2015 nahm Gulnar dann an einem sozialen Projekt namens „Training Cafe“ teil, bei dem Menschen mit psychischen Problemen beschäftigt wurden. Neben Gulnar erhielten auch andere Empfänger von Sozialleistungen eine feste Anstellung im Café als Köche, Kellner oder Barkeeper. Seitdem hat das Projekt in der kasachischen Bevölkerung große Aufmerksamkeit erregt.
„Sechs Monate später wurde mir die Leitung der Knödelproduktion übertragen. 2017 erhielten wir ein Gebäude zur Eröffnung eines neuen Cafés mit demselben Namen. Später in demselben Jahr wurde das Projekt „Zentrum für ein unabhängiges Leben von Menschen mit psychischen Störungen“ gegründet. Dessen Zielsetzung bestand darin, den Patienten die Möglichkeit zu geben, unter der Aufsicht von Sozialarbeitern in einer regulären Wohnung zu leben und gleichzeitig einer Arbeit nachzugehen, um so den Patienten bessere Sozialisierungsmöglichkeiten zu bieten. All diese Projekte wurden dank der kasachischen Psychoanalytikerin Dr. Anna Kudiyarova und der Unterstützung durch die nationale Regierung ins Leben gerufen. Dieses Projekt gab mir die Möglichkeit, mich als Teil der Gesellschaft zu fühlen, was sich natürlich positiv auf meine Genesung ausgewirkt hat.“
Dank der Arbeit örtlicher Menschenrechtsaktivisten, die sich ebenfalls an diesem Prozess beteiligten, erhielt Gulnar ihre Rechtsfähigkeit zurück. Heute arbeitet sie im Zentrum der Psychoanalytischen Vereinigung als Assistentin des Leiters.
„Ich bin froh, dass ich jetzt wieder Geld verdienen und auf meine persönlichen Ziele hinarbeiten kann, aber in Zukunft möchte ich mich in anderen Bereichen versuchen, vielleicht im Marketing oder in einer Privatklinik, z. B. in einer Zahnklinik. Ich denke, ich kann gut als Empfangsdame arbeiten und mit Kunden oder Patienten kommunizieren.“
Sie fügt hinzu: „Alles, was ich brauche, ist es, ein Teil der Gesellschaft zu sein, um zu kommunizieren und meine Ziele zu erreichen.“
Grundlegende Umgestaltung der psychischen Gesundheitsversorgung
Gulnars Geschichte zeigt, dass sich Stigmatisierung und diskriminierende Haltungen und Leitlinien negativ auf die psychische Gesundheit auswirken und eine Genesung behindern können. Investitionen in die psychische Gesundheit können das Leiden erheblich verringern und die Lebensqualität, die soziale Funktionsfähigkeit und die Lebenserwartung von Menschen mit psychischen Erkrankungen verbessern. Am 10. Oktober 2024 präsentierte WHO/Europa das MOSAIC-Toolkit der WHO zur Beendigung von Stigmatisierung und Diskriminierung im Bereich der psychischen Gesundheit. Es richtet sich an alle, die sich für die Bekämpfung von Stigmatisierung engagieren wollen, und soll den Prozess des Abbaus von Stigmatisierung und Diskriminierung entmystifizieren.
Die WHO unterstützt die Länder bei der Umgestaltung der psychosozialen Dienste hin zu einem menschenzentrierten, gemeinschaftsbezogenen und auf Rechte gestützten Ansatz. Die Unterstützung der Entwicklung und Umsetzung inklusiver Konzepte, die der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung Vorrang einräumen, trägt dazu bei, dass die Menschen in ihren örtlichen Gemeinschaften eine umfassende, gut zugängliche und einfühlsame Unterstützung erhalten.
Eines der Instrumente der WHO zur Förderung der Umgestaltung des Leistungsangebots ist die globale Initiative QualityRights, die darauf abzielt, die Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung und damit verbundener Leistungen zu verbessern und für die Rechte von Menschen mit psychosozialen, geistigen und kognitiven Behinderungen einzutreten. QualityRights arbeitet an der Basis darauf hin, direkt Einfluss auf Einstellungen und Praktiken zu nehmen und durch die Politik nachhaltige Veränderungen herbeizuführen. Die Initiative hat ein breites Spektrum von Schulungsmaterialien, Instrumentarien, fachlicher Unterstützung und praktischer Leitfäden entwickelt, um einen auf Menschenrechte und Genesung abzielenden Ansatz zu fördern, wie er in dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und anderen internationalen Menschenrechtsnormen vorgesehen ist.