In der Europäischen Region der WHO leben ca. 135 Mio. Kinder mit einer Form von Behinderung. Für manche von ihnen ist es mit zusätzlichen Herausforderungen verbunden, auf Gesundheitsinformationen zuzugreifen und sie zu verstehen. Medizinische oder gesundheitsbezogene Informationen können komplex sein, oder das Format, in dem sie präsentiert werden, kann unzugänglich sein. Ohne klare Informationen kann es schwierig sein, wichtige Gesundheitsentscheidungen zu treffen oder überhaupt Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Mit dem Fortschreiten der COVID-19-Pandemie hatte die 26-jährige Poppy Field, die in Südengland lebt, zunehmend Mühe, die sich ständig verändernde Situation zu verstehen. „Ich habe versucht zu verstehen, aber es war schwer, Informationen zu entziffern, die nicht leicht verständlich formuliert waren“, sagt sie. „Ich weiß, dass es für alle schwer war, aber mit einer kognitiven Behinderung kam noch eine ganz andere Ebene hinzu. Es könnte den ganzen Tag brauchen, um zu verstehen, wie man sich impfen lassen kann. Das darf nicht sein.“
Poppy, die neurodivergent und chronisch krank ist, setzt sich energisch für Förderung von Inklusion und Barrierefreiheit ein; sie arbeitet mit verschiedenen Organisationen zusammen und beschäftigt sich als Podcast-Moderatorin mit der Identität von Menschen mit Behinderungen. Unter Barrierefreiheit wird verstanden, dass die Menschen in der Lage sein sollten, ohne fremde Hilfe dorthin zu kommen, wo sie hinmüssen, zu lesen, was sie wollen, und zu tun, was sie wollen. Dazu müssen in ihrer Umgebung unterschiedliche Fähigkeiten berücksichtigt werden.
Poppy setzt sich dafür ein, dass barrierefreie Lösungen in alle Lebensbereiche integriert werden, und sie hat eine besondere Vorliebe für barrierefreie Mode – ihre glitzernden und farbenfrohen Gehstöcke sind ein wichtiger Bestandteil ihrer Kleidung und Ästhetik. Deshalb war es ein großer Schritt in Poppys Karriere, dass sie im vergangenen Jahr mit einer gemeinnützigen Organisation, die sich auf adaptive Mode spezialisiert hat, in einer Show auf der New Yorker Modewoche mitwirken konnte.
Auf dem Gebiet der Barrierefreiheit konnten in jüngerer Zeit dank des technologischen Fortschritts erhebliche Verbesserungen erzielt werden. Aber die eigentliche Herausforderung besteht für Poppy darin, die Menschen dazu zu bringen, das Thema ernst zu nehmen. „Mein Partner ist blind“, erklärt sie, „und die Leute verstehen nicht immer, dass er auch online Dinge erledigen muss. Sie sagen: Wenn er blind ist, warum ist er dann online? Aber in Wirklichkeit ist es doch so, dass wir alle Inhalte unterschiedlich aufnehmen.“
Chancengleicher Zugang zu Gesundheitsinformationen
Eine allgemeine Gesundheitsversorgung setzt als integralen Bestandteil einen chancengleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung voraus. Im Einklang mit dieser Vision führte der National Health Service im Vereinigten Königreich 2016 den Qualitätsstandard für barrierefreie Informationen ein, der besagt, dass alle Menschen ein Recht auf barrierefreie Informationen und auf Kommunikationsunterstützung haben. So können beispielsweise blinde oder sehbehinderte Patienten verlangen, dass ihre Gesundheitsinformationen in Blindenschrift, Audioformat oder Großdruck bereitgestellt werden. Doch viele Gesundheitsinformationen sind für manche Bevölkerungsgruppen in der Europäischen Region der WHO nach wie vor unzugänglich.
Eine Möglichkeit, Gesundheitsinformationen leichter zugänglich zu machen und Gesundheitskompetenz zu fördern, besteht darin, offizielle Dokumente durch eine leicht lesbare Version zu ergänzen. Dies kommt nicht nur Menschen mit kognitiven und geistigen Behinderungen zugute, sondern auch Jugendlichen und Menschen mit einer anderen Muttersprache. Andere zugängliche Formate können einen hohen Kontrast, Bildbeschreibungen oder einen nicht-weißen Hintergrund beinhalten. Videos können mit Untertiteln, Transkriptionen oder Verdolmetschung in Gebärdensprache versehen werden.
Vor Kurzem hat die WHO ihren Handlungsrahmen zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gesundheit für Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Region (2022–2030) in einem leicht lesbaren Format herausgegeben, das leicht verständliche Sätze und Bilder beinhaltet. „Ich freue mich, dass die WHO das gemacht hat“, sagt Poppy. „Natürlich wird es immer wieder zu Interessenkonflikten beim Zugang kommen, bei denen die Lösung für die einen funktioniert, aber für die anderen nicht. Aber die Bereitstellung von Informationen in einem zugänglichen Format sollte der Goldstandard sein, denn so erreicht man eine größtmögliche Anzahl von Menschen und bekommt ein nahtloses, benutzerfreundliches Resultat.“
Poppy benutzt gelegentlich einen Rollstuhl und Gehstöcke, aber sie betrachtet auch ihre Medikamente als Mobilitätshilfe. „Ohne sie könnte ich nicht so bequem leben“, erklärt sie. „Meine Medikamente sind einer der Gründe dafür, dass ich mich bewegen, arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann.“ Doch während manche Rollstühle mit einfachen Handbüchern und Anleitungen geliefert werden, sind die Beipackzettel von Medikamenten oft sehr schwer zu verstehen. „Ich wünschte, es gäbe auch Pillenboxen mit leicht lesbaren Anleitungen. Ich kann immer meine Ärzte bitten, sie zu interpretieren, aber eine leicht verständliche Anleitung käme der Eigenverantwortung der Patienten für ihre Gesundheit und ihren Körper zugute, und das wollen wir ja in der Gesundheitsversorgung erreichen.“
In die Zukunft investieren
Manchmal hält sich das Gesundheitswesen nicht an die Vorschriften für Barrierefreiheit, weil diese als unnötig angesehen werden, als ein zusätzlicher Bonus, wenn eine Organisation es sich leisten kann. Poppy hält diese Einstellung für kurzsichtig. „Wir haben eine alternde Bevölkerung“, sagt sie. „Wir erleben in Europa mehrere Epidemien und einen massiven Krieg. Die Annahme, dass nur wenige Menschen von einer Behinderung betroffen sein werden, ist eine Illusion. Im Grunde genommen ist das Leben eine Reise in Richtung Behinderung. Jeder muss damit irgendwann fertigwerden, und sei es auch nur kurz.“
Unter diesem Gesichtspunkt wird die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu einer Investition in die eigene Zukunft, zu einer Lösung, die vielleicht jetzt noch nicht gebraucht wird, aber eines Tages notwendig werden könnte. „Ich habe Freunde, die schon in ihre Rente einzahlen“, sagt Poppy. „Und ich finde es toll, dass sie für ihren Ruhestand vorsorgen, aber wie werden sie leben, wenn sie 70 sind? Wie sehen unsere Beziehungen zu anderen Menschen aus? Denn es geht nicht nur darum, in den Zwanzigern Geld zu sparen. Manche Leute haben Erdbeben- oder Hurrikan-Kits, aber haben sie auch an eine Behinderung gedacht? Sind sie in ihrer Lebenssituation darauf vorbereitet?“
Die erfolgreiche Eingliederung von Menschen mit Behinderungen ist ein langer Prozess, der damit beginnt, Wahrnehmungen und Stereotypen zu hinterfragen. „Ich wünsche mir, dass die Menschen über ihre Sichtweise und ihren Umgang mit Behinderungen nachdenken“, sagt Poppy abschließend. „Setzt euch hin und analysiert. Das ist kein Horrorfilm, sondern etwas ganz Neutrales. Weder gut noch schlecht, sondern einfach Teil des Lebens.“