Ole Walter Jacobsen / The Norwegian Directorate of Health
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So kann es gehen: das Stillen zu etwas machen, das jeden etwas angeht

1 August 2025
„Stellen Sie sich ein Fläschchen mit Stammzellen, Antikörpern und Nährstoffen vor – personalisierte Nahrung und Medizin, die Immunität aufbaut, die Entwicklung fördert und die Gesundheit ein Leben lang schützt. Wie viel würden wir dafür bezahlen? Und doch gibt es sie bereits – in der Muttermilch von Frauen“ sagt Angela Giusti vom italienischen Nationalen Institut für Gesundheit (ISS). 

Stillen ist eine der wirksamsten Investitionen in die lebenslange Gesundheit von Säuglingen, Müttern und der Gesellschaft insgesamt. Dennoch wird es nach wie vor unterbewertet und nicht ausreichend unterstützt. 

Die 1991 von der WHO und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) ins Leben gerufene Initiative Babyfreundliches Krankenhaus (BFHI) hat weltweite Standards zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens im Rahmen der Versorgung von Müttern und Neugeborenen festgelegt. Auf der Grundlage der BFHI werden diese Grundsätze in einem aktuellen Projekt auf den kommunalen Bereich ausgeweitet. 

Angela Giusti leitet gemeinsam mit Anne Bærug von der norwegischen Gesundheitsdirektion das Projekt „Babyfreundliche Gemeinschaft und Gesundheitsangebote“ im Rahmen der von der Europäischen Union (EU) finanzierten Gemeinsamen Aktion zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (JA Prevent NCD). 

„Unser Ziel ist es, den Standard von WHO und UNICEF über das Krankenhausumfeld hinaus auf kommunale Gesundheitsangebote auszuweiten und auch außerhalb der Gesundheitsversorgung, insbesondere in benachteiligten Gebieten, Pilotmaßnahmen zur Schaffung stillfreundlicher Umfelder durchzuführen“, erklärt Anne. 

Das Projekt „Babyfreundliche Gemeinschaft und Gesundheitsangebote“ hat in Norwegen bereits Wirkung gezeigt und wurde 2022 als bewährte Vorgehensweise der EU (EU Best Practice) anerkannt. Es soll nun auf sieben europäische Länder zugeschnitten und auf diese ausgeweitet werden: Griechenland, Italien, Litauen, Norwegen, Slowenien, Spanien und die Ukraine.

Das Narrativ rund ums Stillen überdenken

Trotz der gut dokumentierten gesundheitlichen Vorteile des Stillens sind die Stillraten in Europa stark zurückgegangen und sind nun weltweit von allen Kontinenten die niedrigsten. 

Beim Stillen geht es nicht nur um die Ernährung. Es bietet einen tief greifenden, langfristigen Schutz: Für Frauen gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass es das Brustkrebsrisiko senken kann; für Kinder verringert es die Wahrscheinlichkeit von Adipositas, Diabetes und anderen nichtübertragbaren Krankheiten und bietet gleichzeitig Schutz vor Infektionen. 

Dennoch wird das Stillen in der Öffentlichkeit nach wie vor als Bonus und nicht als Norm dargestellt, und diese Darstellung prägt die Art und Weise, inwiefern die Gesellschaft Frauen unterstützt bzw. versäumt, sie zu unterstützen.

„Wenn wir über das Rauchen sprechen, ist die Norm saubere Luft, und das Gespräch konzentriert sich zu Recht auf die durch Tabak verursachten Schäden“, sagt Angela. „Doch wenn es um das Füttern von Säuglingen geht, ist es genau andersherum: Wir sehen das Stillen als einen Bonus an, anstatt die tatsächlichen Risiken einer Ernährung auf Grundlage von Muttermilchersatzprodukten zu benennen.“

Sie betont: „Warum sprechen wir nicht über den versäumten Schutz und die mit Muttermilchersatzprodukten verbundenen Risiken? Denn wenn wir das tun, wird es zu oft gegen uns verwendet, als ob wir gegen Frauen oder die Entscheidungsfreiheit wären, was eine falsche Darstellung der Wahrheit ist. Wir wollen lediglich sagen, dass sich die Gesellschaft ändern muss, damit Frauen in die Lage versetzt werden, zu stillen, wenn sie dies wollen, und sich nicht mit einem System herumschlagen müssen, das ihnen jeden Schritt erschwert.“

Eine fürsorgliche Gemeinschaft für die Kindererziehung 

„Jeder, der mit Familien interagiert, muss eine Rolle übernehmen. Das kann die Kassiererin im Supermarkt sein, der Friseur, die Krankenschwester, der Nachbar. Eltern schenken vielen verschiedenen Menschen ihr Vertrauen, und wir müssen sicherstellen, dass diese Menschen Teil dieser fürsorglichen Gemeinschaft für die Kindererziehung sind. So kann es gehen – hier bewährt sich der Ansatz der babyfreundlichen Gemeinschaft“, erklärt Angela.

In Italien konzentriert sich das Pilotprojekt auf Kalabrien, eine Region mit hohen Adipositasraten bei Kindern und niedrigen Stillraten. Diese Faktoren spiegeln allgemeine soziale Ungleichheiten wider, die sich auf die gesundheitlichen Resultate auswirken und Familien anfälliger für die aggressive Vermarktung von Säuglingsnahrung und ungesunden, hochverarbeiteten Lebensmitteln machen.

In Kalabrien umfasst die Initiative 29 Gemeinden, 5 kommunale Gesundheitsdienste, 2 Krankenhäuser und ein breites Netz von Schulen, vom Kindergarten bis zur Hochschule. Jede Interessengruppe hat ermittelt, was sie zur Unterstützung des Stillens beitragen kann. 

Angela gibt ein Beispiel: „Einige Kindergärten haben sich bereit erklärt, die nötige Infrastruktur einzurichten, damit Eltern abgepumpte Muttermilch abgeben können, wenn sie morgens ihre Kinder in den Kindergarten bringen. Erzieherinnen und Erzieher haben sich verpflichtet, die Muttermilch ordnungsgemäß aufzubewahren und die Kinder tagsüber damit zu füttern. Das ist eine kleine, aber wirksame Veränderung.“

Ähnliche Aktivitäten werden in allen 7 teilnehmenden Ländern durchgeführt, je nach lokalen Gegebenheiten und Herausforderungen.

Schaffung der politischen und systemischen Grundlagen

Das Stillen wird durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst: nationale Politik, Bedingungen am Arbeitsplatz, die Einstellung der Öffentlichkeit, die Struktur von Leistungsangeboten und auf wen Frauen zählen können, um Unterstützung zu erhalten.

„Wir können nicht die ganze Verantwortung auf die Gemeinschaften abwälzen – nationale und internationale Maßnahmen sind unerlässlich. In vielen Ländern haben wir nicht einmal grundlegende Daten über das Stillen. Das ist ein Zeichen dafür, welch untergeordnete Rolle das Thema spielt“, sagt Anne. 

„Gemeinsam mit WHO/Europa beginnen wir jetzt, Schlüsselindikatoren zu sammeln, damit wir die Fortschritte verfolgen und die Systeme zur Verantwortung ziehen können. Allzu oft erhalten Familien nicht die Unterstützung, die sie brauchen, weil Gesundheitsfachkräfte nicht entsprechend ausgebildet sind. Die WHO hat in ganz Europa große Lücken in der Berufsausbildung festgestellt. Deshalb entwickeln wir eine europäische E-Learning-Plattform – BreastFEEDucation –, um sicherzustellen, dass Fachkräfte in der Lage sind, das Stillen in Einklang mit den babyfreundlichen Standards zu unterstützen.“

Anne betont, dass auch eine strenge Regulierung wichtig ist. „Zurzeit sponsern Unternehmen, die Muttermilchersatzprodukte verkaufen, Veranstaltungen für Gesundheitsfachkräfte – das ist ein eindeutiger Interessenkonflikt. Die WHO war maßgeblich an der Auseinandersetzung mit der Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten beteiligt, und nun verlagert sich der Schwerpunkt langsam auf die schnelllebige Welt des digitalen Marketings.“ 

Sie fügt hinzu: „Gemeinsam mit der WHO und verschiedenen Ländervertretern haben wir einen Resolutionsentwurf zur Regulierung speziell des digitalen Marketings ausgearbeitet, der auf der diesjährigen Weltgesundheitsversammlung im Mai vorgestellt werden soll.“

Smiling mother, breastfeeding her baby on a sofa.

Photo credit: Ole Walter Jacobsen / The Norwegian Directorate of Health

Gesunde Anfänge, hoffnungsvolle Zukunft

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden immer deutlicher: Was in den frühesten Phasen des Lebens geschieht, einschließlich der Ernährung im Säuglingsalter, hat tief greifenden Einfluss auf die Gesundheit und die Entwicklung im gesamten Lebensverlauf. Stillen ist nicht nur eine persönliche Entscheidung – es ist eine kollektive Investition in die öffentliche Gesundheit. 

Die am diesjährigen Weltgesundheitstag gestartete einjährige Kampagne der WHO mit dem Titel „Gesunde Anfänge, hoffnungsvolle Zukunft“ unterstreicht die Bedeutung förderlicher Umfelder in den ersten Momenten des Lebens. Stillfreundliche Gemeinschaften sind ein wichtiger Teil dieser Vision – denn ein gesunder Anfang erfordert kollektives Engagement, und eine hoffnungsvolle Zukunft beginnt mit einem Umfeld, in dem das Stillen unterstützt, geschützt und gefördert wird.