Iryna Vlasenko
Ballettstunden helfen Iryna, Stress abzubauen und ein normaleres Leben zu führen.
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„Wenn du Hilfe brauchst, werden die Menschen kommen“

28 August 2024
Dr. Iryna Vlasenko ist eine ukrainische Apothekerin und Vizepräsidentin der International Diabetes Federation. Sie lebt mit Typ-1-Diabetes.

Sie erinnert sich an ihre Reaktion, als ihr vor 31 Jahren mitgeteilt wurde, dass sie Diabetes hat: „Ich konnte meine Diagnose nicht akzeptieren. Ich war Schülerin. Ich war in jeder Hinsicht ein sehr aktiver Mensch, tanzte, trieb Sport. Es konnte nicht wahr sein, es war unmöglich. Eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt? Es war ein Schock für mich und meine Familie, und ich fühlte mich lange Zeit wie ein Mädchen, das alles verloren hat.“

Ihr Arzt sagte ihr: „Sie sind gebildet, dies ist Ihr Problem und Sie können es lösen, behandeln Sie sich selbst, es liegt in Ihrer Hand.“ Sie sagt: „Ich weinte und habe dann angefangen zu lesen.“ Sie suchte nach der besten Behandlung, die sie finden konnte, und ging nach Moskau, wo man sich damals für die Aufklärung und das Selbstmanagement von Menschen mit Diabetes einsetzte. Sie erklärten mir, wie ich leben könne, und das veränderte alles. Ich beschloss, dass ich nicht mein Leben auf meine Diabetes-Erkrankung ausrichten würde, sondern dass sich meine Diabetes-Erkrankung nach meinem Leben richten müsse. Es hatte keinen Sinn, zu weinen, dass mein Leben vorbei war; denn das war es nicht.“

Ihre Mutter sorgte von Anfang an dafür, dass Iryna strategisch vorging und tat, was sie tun musste – zum Beispiel zweimal täglich ihren Blutzucker zu kontrollieren. Wissenschaftliche Innovationen haben ihr das Leben leichter gemacht: Sie hat jetzt eine Insulinpumpe, die Insulin in ihren Körper abgibt, und ein Gerät zur kontinuierlichen Blutzuckermessung, das ihren Blutzuckerspiegel 24 Stunden am Tag misst. Das bedeutet, dass sie nicht mehr ständig an ihren Diabetes denken und sich Sorgen machen muss, ob sie hyperglykämisch (ihr Blutzuckerspiegel zu hoch) ist oder nicht. Dank einer sorgfältigen Routine zur Erkennung von Problemen sind bei ihr bisher keine Komplikationen aufgetreten. 

Mehr als 10 Jahre lang hat sie ihre Diabetes-Erkrankung geheim gehalten, doch das hat sich nun dramatisch geändert: „Ich bin international sehr aktiv, engagiere mich sehr in der Diabetes-Gemeinschaft; ich bin offen und habe keine Geheimnisse. Manchmal hilft mir das, Menschen mit Diabetes zu motivieren – deine Diabetes-Erkrankung liegt in deinen eigenen Händen.“

Leben in einer Notlage

Am 24. Februar 2022 erlebte die Ukraine eine groß angelegte Invasion durch die Russische Föderation, und die üblichen Systeme, die die Gesellschaft steuern, waren massiv bedroht. Für Menschen mit Diabetes, die auf ständige Unterstützung durch Technik und Medizin angewiesen sind, war dies ein Schock. „Plötzlich schlossen Apotheken, und die Menschen verließen das Land. Man musste Insulin besorgen, und zu Beginn des Krieges musste man oft dafür bezahlen. Teilweise musste man 5 Stunden lang dafür anstehen. Die Leute waren gestresst, und all unsere Telefone klingelten. Ich hatte meinen 3-Monats-Vorrat, daher dachte ich, dass es schon gut gehen werde, doch als die Situation schlimmer wurde, teilten diejenigen von uns, die Insulin hatten, es mit anderen, denn ohne es würden die Menschen sterben.“

Iryna wandte sich an das Gesundheitsministerium, und in enger Zusammenarbeit wurde ein sehr praktisches System ausgearbeitet, das bis heute Bestand hat. Das Ministerium stellt täglich eine Liste aller Apotheken im ganzen Land online, die geöffnet haben und über Insulin verfügen – je nach aktiven Konfliktgebieten, Sicherheitslage und Ereignissen des Tages. Und für Menschen, die in abgelegenen Gebieten und Dörfern leben, melden sich Freiwillige in den Städten, um Vorräte zu besorgen und sie zu liefern. Kommunikation ist von entscheidender Bedeutung, wenn die Reisesicherheit von Tag zu Tag so unsicher ist. In den besetzten Gebieten sei die Lage noch viel schlimmer, sagt sie.

Iryna ist sehr dankbar für die Unterstützung aus dem In- und Ausland, von Regierungen, der Industrie und der Öffentlichkeit. „Mein Vater hat immer gesagt: ,Es gibt viele freundliche Menschen auf der ganzen Welt, und wenn du Hilfe brauchst, werden die Menschen kommen‘, und das tun sie auch. In einer Demokratie wollen die Menschen ihr Glück teilen.“ Von Anfang an haben die International Diabetes Federation und die Diabetes-Gemeinschaft Menschen mit Diabetes nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den vielen Ländern, in die sie geflüchtet und wo sie zu Flüchtlingen geworden sind, unterstützt. Sie ist sich auch der Bedürfnisse von Menschen mit anderen chronischen Krankheiten bewusst, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Jeder braucht psychologische Unterstützung. Online-Unterstützung ist ebenfalls wichtig, doch auch der persönliche Kontakt mit alten Menschen, die keine Computer benutzen, darf nicht vergessen werden.

„Wir müssen weiterleben“

Iryna lacht, als sie von ihren regelmäßigen Ballettstunden erzählt, die trotz Stromausfällen fortgesetzt werden. „Diese Kurse helfen uns, Stress abzubauen und ein normaleres Leben zu führen. Wir müssen weiterleben. Wir müssen auch die grundlegenden Dinge tun – uns richtig ernähren, uns ausreichend bewegen und immer nach neuen Entwicklungen Ausschau halten. Apotheker können so viel Hilfe leisten, wenn sie dafür ausgebildet sind. Wir sollten nicht vergessen, wie ernst diese Krankheit ist. Ein einmonatiger Aufenthalt in einer Notaufnahme mit meiner Mutter hat mir gezeigt, dass es auch bei Typ-2-Diabetes um Leben und Tod geht. Aber wenn wir alle zusammenarbeiten, vor allem die Diabetes-Gemeinschaft, können wir es schaffen, selbst in einer Notlage.“

Die von Iryna so geschätzte patientenorientierte Versorgung und Unterstützung durch die Gemeinschaft ist Teil des Ansatzes, der in der jüngsten Publikation von WHO/Europa mit dem Titel „Therapeutische Patientenschulung: eine Einführung“ verfolgt wird. Diese Publikation soll politischen Entscheidungsträgern und Angehörigen der Gesundheitsberufe dabei behilflich sein, eine wirksame therapeutische Patientenaufklärung für alle Menschen mit chronischen Erkrankungen zu gewährleisten. Ziel ist es nicht nur, Entscheidungsprozesse in Bezug auf die klinische Versorgung zu verbessern, indem die Patienten durch Aufklärung, Befähigung und Unterstützung eingebunden werden, sondern auch, ihnen zu einem sinnvolleren Leben zu verhelfen. 

Hintergrund zum Thema Diabetes: Wozu haben sich die Mitgliedstaaten der WHO verpflichtet?

2022 haben sich die Mitgliedstaaten der WHO erstmals für die Festlegung globaler Zielvorgaben für Diabetes ausgesprochen, die Teil der Empfehlungen zur Stärkung und Überwachung von Diabetesmaßnahmen im Rahmen nationaler Programme für nichtübertragbare Krankheiten waren.

WHO/Europa und die International Diabetes Federation Europe haben sich darauf geeinigt, die Fortschritte zu beschleunigen, um diese globalen Diabetesziele bis 2030 zu erreichen oder zu übertreffen:
  • 80 % der mit Diabetes lebenden Menschen sollen eine ordnungsgemäße Diagnose erhalten;
  • 80 % von ihnen sollen über eine gute Kontrolle über ihren Blutdruck und Blutzuckerspiegel verfügen;
  • 60 % der Menschen mit Diabetes ab 40 Jahren erhalten Statine;
  • 100 % der Menschen mit Typ-1-Diabetes haben Zugang zu bezahlbarem Insulin und zu Blutzucker-Selbstkontrollen.