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„Mit ein wenig Hilfe kann jeder hier vorankommen. Keiner ist verloren.“ Ausweitung der psychischen Gesundheitsversorgung und der psychosozialen Betreuung für armenische Flüchtlinge

10 November 2023
Die zermürbende Reise von Karabach nach Armenien hat über 100 000 Flüchtlinge auf eine harte Probe gestellt, sodass viele von ihnen dringend psychologische Unterstützung benötigen. Ein Team der WHO sprach mit Flüchtlingen, die kürzlich in einer Notunterkunft angekommen waren. Mit individuellen Stimmen erzählen sie eine gemeinsame Geschichte:

„Wir werden diese schreckliche Reise nach Armenien nie vergessen. Diese Erfahrung wird mir immer in Erinnerung bleiben und sich in meinen Träumen immer wiederholen.“  

„Wir haben tote Menschen auf der Straße gesehen, die wir umfahren mussten.“ 

„Ich habe Flashbacks von den Kämpfen, die uns von zu Hause vertrieben haben, und meine Tochter ist nach dem, was sie erlebt hat, aggressiver geworden.“

„Ich habe das Gefühl, dass die Welt um mich herum zusammengebrochen ist.“ 

„Als die Schießereien begannen, sind wir alle in die Schule gelaufen, in der sich der Schutzraum befindet, und alle Kinder waren dort. Sie hatten große Angst und weinten. Wir haben von einem Kind gehört, das vor lauter Angst einen Herzinfarkt bekam.“ 

Die Auswirkungen von Krisensituationen auf das seelische Wohlbefinden

In Armenien herrscht ein unmittelbarer Bedarf an psychischer Gesundheitsversorgung und psychosozialer Unterstützung, da die Vertriebenen versuchen, mit einer Reihe von notfallbedingten sozialen Problemen fertigzuwerden, zu denen die Trennung von der Familie, der Mangel an Sicherheit, der Verlust der Existenz und das Zerbrechen sozialer Netze gehören. 

Es ist durch Studien belegt, dass längerfristig fast jeder von Notlagen betroffene Mensch in irgendeiner Form in psychische Not gerät. Von denjenigen, die in den letzten zehn Jahren einen Krieg oder einen anderen Konflikt erlebt haben, leidet etwa ein Fünftel (22 %) später an Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen, bipolaren Störungen oder Schizophrenie. 

Wendet man diese Schätzungen auf die Situation der Flüchtlinge in Armenien an, so geht die WHO davon aus, dass etwa 22 500 armenische Flüchtlinge psychisch erkranken könnten.   

Die Erfüllung der psychischen Gesundheitsbedürfnisse aller Flüchtlinge ist eine Schlüsselkomponente der Hilfsmaßnahmen der WHO für die Flüchtlinge in Armenien. Um dies zu erreichen, baut die WHO ihre Angebote im Bereich der psychiatrischen und psychosozialen Unterstützung aus, indem sie Psychologen, das Personal der primären Gesundheitsversorgung sowie Freiwillige ausbildet.  

Psychologische Betreuung der Opfer von Verbrennungen

Zu den dringendsten Aufgaben gehört die Bereitstellung von Angeboten im Bereich der psychiatrischen und psychosozialen Unterstützung für die Überlebenden der Explosion des Treibstofflagers vom 25. September, bei der mehr als 200 Menschen getötet und über 300 verletzt wurden. Anfang November benötigten über 100 Überlebende von Verbrennungen mittel- und langfristige psychologische Betreuung.

Naira Azatyan ist eine von zehn von der WHO ausgebildeten Psychologinnen, die im Nationalen Zentrum für Verbrennungen und Dermatologie sowie in anderen Krankenhäusern im ganzen Land mit Verbrennungspatienten arbeiten. Sie erklärt: „Unsere Patienten sind in einer extrem emotionalen Verfassung, bekommen Flashbacks und brauchen über einen längeren Zeitraum psychologische Betreuung. Zunächst arbeiten wir mit ihnen daran, die Situation zu stabilisieren, wir machen Entspannungsübungen und konzentrieren uns dann auf Schritte, die sie später unternehmen können. Wir arbeiten nicht nur mit den Patienten, sondern auch mit ihren Familien und Verwandten.“ 

Marietta Khurshudyan ist eine klinische Psychologin, die als Expertin für psychische Gesundheit und psychologische Unterstützung beim WHO-Länderbüro in Armenien tätig ist. Gemeinsam mit dem armenischen Gesundheitsministerium und den örtlichen Umsetzungspartnern ist sie federführend an der Ausweitung der Arbeit auf diesem Gebiet beteiligt. Im Rahmen eines dieser Projekte wurden die zehn Psychologen in der Behandlung von Brandverletzten geschult.

„Wir wissen, dass aktuell 100 Menschen wegen ihrer schweren Verbrennungen im Krankenhaus behandelt werden. Sie sind nicht nur mit extremen Schmerzen konfrontiert, sondern haben natürlich auch Angst vor der Zukunft“, sagt sie. 

„Die WHO hat damit begonnen, armenische Psychologen auszubilden, die mit Verbrennungspatienten arbeiten, damit diese die Betreuung erhalten, die sie so dringend benötigen. Die psychiatrische und psychosoziale Unterstützung ist ein wesentlicher Bestandteil der Schmerzbewältigung. Das Erkennen, Verstehen und Bewältigen der Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen, die mit dem Schmerz einhergehen, kann ihnen dabei helfen, besser damit umzugehen.“  

Sie fügt hinzu: „In einem ersten Schritt müssen die Psychologen den Patienten helfen, ihre neue Realität zu akzeptieren. Denn dies ist etwas, das sie für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen werden. In manchen Fällen erholen sich die Menschen vollständig, aber bei den meisten ist das nicht der Fall. Manche werden sich nie wieder im Spiegel erkennen.“ 

Ein zentraler Bestandteil der psychiatrischen und psychosozialen Unterstützung besteht darin, den Betroffenen dabei zu helfen, ihre eigene Stärke zu erkennen. „Der nächste Schritt besteht darin, dass sie erkennen, dass sie am Leben sind, und dass sie ihre individuellen inneren und äußeren Ressourcen zu schätzen lernen. Beispielsweise erinnern wir sie daran, dass sie stark sind, dass sie eine Familie haben, die sie unterstützt, dass sie Menschen haben, die sie lieben.“  

Erleichtert, aber traumatisiert

Laut der von WHO/Europa durchgeführten Analyse der gesundheitlichen Situation in Verbindung mit der Flüchtlingshilfe in Armenien sind viele Geflüchtete zwar erleichtert über ihre Ankunft in Armenien, aber nach wie vor traumatisiert und verunsichert in Bezug auf ihre Zukunft. 

Gohar Gyurjyan ist Sozialarbeiterin und ebenfalls vor Kurzem geflohen. Sie hat sich einem von der WHO unterstützten mobilen Team für psychiatrische und psychosoziale Unterstützung angeschlossen, das sich um die Belange von etwa 140 Flüchtlingen kümmert. Sie ist ein wichtiges Bindeglied zu anderen Flüchtlingen.  

„Weil ich eine von ihnen bin, weil ich aus derselben Situation komme wie sie, kann ich besser mit ihnen kommunizieren. Sie sehen, dass ich in derselben Situation bin wie sie, und gemeinsam suchen wir nach einem Ausweg.“

Sie betont: „Mit ein wenig Hilfe von außen kann jeder hier vorankommen, wenn er bereit ist, sein Leben in die Hand zu nehmen und zu verbessern. Keiner ist verloren.“  

Aufbau leistungsfähigerer psychischer Gesundheitssysteme

Die WHO bildet außerdem zehn Psychologen für die Mitarbeit in einem Notrufzentrum für psychische Gesundheit aus, bei der sie den Anrufern Mitgefühl entgegenbringen und helfen, schmerzhafte Gefühle in Verbindung mit der Krise zu entschärfen.  

Khurshudyan sagt: „Isolation kann Gefühle wie Stress, Traumata und Depressionen verstärken; deshalb sollten die Betroffenen so schnell wie möglich Hilfe suchen. Der Notruf gibt ihnen die Möglichkeit, das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden und sich mit einer fürsorglichen Fachkraft in Verbindung zu setzen.“ 

Marthe Everard, Sonderbeauftragte des WHO-Regionaldirektors für Europa in Armenien, kommentiert: „Investitionen in die psychische Gesundheit im Rahmen der humanitären Hilfe zahlen sich aus, nicht nur, weil sie den Menschen helfen, extreme Notlagen und Härten zu überleben, sondern auch, weil sie zum Wiederaufbau eines Landes beitragen.“ 

Die WHO hat in einem Notfall-Spendenaufruf für Armenien um insgesamt 2,9 Mio. US-$ für den Zeitraum von September 2023 bis Februar 2024 gebeten. Mit diesen Mitteln soll u. a. sichergestellt werden, dass die WHO weiterhin eine spezialisierte Versorgung der Überlebenden von Verbrennungen anbieten, ihren Rehabilitationsbedarf ermitteln und das bestehende Programm für psychiatrische und psychosoziale Unterstützung auf die betroffene Flüchtlings- und Aufnahmebevölkerung ausweiten kann.