Erklärung – Krebsversorgung in allen berichterstattenden Ländern bis zu 50% beeinträchtigt: die tödlichen Folgen von COVID-19

3 February 2022
Statement
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Video: Statement by Dr Hans Henri P. Kluge, WHO Regional Director for Europe, 03-02-2022

 

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Kopenhagen, 3. Februar 2022

In der vergangenen Woche wurden in der Europäischen Region 12 Mio. neue Fälle [von COVID-19] registriert. Dies ist die höchste wöchentliche Fallinzidenz seit Beginn der Pandemie und hauptsächlich auf die leicht übertragbare Omikron-Variante zurückzuführen, die sich rasant von West nach Ost ausbreitet. 

30% aller Fälle von COVID-19 seit Beginn der Pandemie wurden allein in diesem Jahr gemeldet.
Inzwischen haben wir in Europa und Zentralasien schon fast 150 Mio. gemeldete Fälle von COVID-19. 
22% aller registrierten Tests fallen positiv aus. 

Die Zahl der Krankenhauseinweisungen steigt weiter, vor allem in den anfälligen Bevölkerungsgruppen in Ländern mit niedrigerer Durchimpfung. Doch sie steigt nicht so schnell wie die Fallinzidenz – und insgesamt hat die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen nicht wesentlich zugenommen. Im Augenblick beginnt die Zahl der Todesfälle in der Europäischen Region abzuflachen.

Ich möchte nochmals meinen energischen Aufruf von vergangener Woche wiederholen, in dem ich von einem realistischen Endspiel für die Pandemie sprach – und zwar nicht, um sie für beendet zu erklären, sondern um hervorzuheben, dass sich jetzt in der Europäischen Region eine einzigartige Gelegenheit bietet, die Übertragung unter Kontrolle zu bekommen, weil nämlich drei Elemente zusammenkommen: 

  1. ein großes Impfstoffkapital und eine natürliche Immunität gegenüber Omikron; 
  2. eine günstige saisonbedingte Pause, da wir uns dem Ende des Winters nähern; und 
  3. die mittlerweile nachweislich milderen Krankheitsverläufe bei der Omikron-Variante. 
Diese Rahmenbedingungen, die wir während dieser Pandemie so bisher noch nicht hatten, eröffnen uns die Aussicht auf eine längere ruhige Phase und einen deutlich höheren Schutz der Bevölkerung vor einem starken Wiederanstieg der Übertragung, selbst bei einer aggressiveren Variante. Dieser Zeitraum mit höherem Schutz sollte als eine Art Waffenstillstand verstanden werden, der uns dauerhaften Frieden bringen könnte, aber nur unter folgenden Bedingungen: 

  1. einer Konsolidierung und Erhaltung der Immunität durch Aufrechterhaltung aller Impfmaßnahmen;
  2. der  Schwerpunktlegung auf die fünf Stabilisierungsmaßnahmen für die anfälligsten Gruppen, mit einem hohen Maß an Kontrolle und Engagement seitens des Staates; 
  3. der Förderung von Selbstschutz und individueller Eigenverantwortung – dies mit weniger staatlicher Kontrolle, um unnötige sozioökonomische Auswirkungen zu vermeiden; 
  4. der Intensivierung der Surveillance, um neue Varianten zu entdecken. 
Ich bin überzeugt, dass es möglich ist, auf neue Varianten zu reagieren, die zwangsläufig auftreten werden, ohne wieder zu den vorher notwendigen eingreifenden Maßnahmen zurückzukehren. 

Und weil wir diese Chance sehen, lautet jetzt die oberste Priorität, alle Länder auf ein Schutzniveau zu bringen, das es ihnen ermöglicht, diese Chance auch zu ergreifen und sich auf stabilere Zeiten einzustellen. Doch dazu ist eine drastische und vorbehaltlose Erhöhung der Impfstoffspenden über Grenzen hinweg erforderlich. Wir dürfen Ungleichgewichte in der Impfstoffversorgung keinen Tag länger hinnehmen – Impfstoffe müssen für alle verfügbar sein, auch in den entlegensten Ecken unserer weitläufigen Region und darüber hinaus.

Vor dem morgigen Weltkrebstag möchte ich die Gelegenheit nutzen, die katastrophalen Folgen hervorzuheben, die die Pandemie in den vergangenen zwei Jahren für Krebspatienten gehabt hat. Tatsächlich erstrecken sich die Folgen von COVID-19 weit über die Krankheit selbst hinaus. Krebs berührt uns alle, entweder direkt oder durch seine Auswirkungen auf Angehörige und Freunde. Ein Viertel der Bevölkerung in Europa und Zentralasien wird im Laufe ihres Lebens eine Krebsdiagnose erhalten. Krebs gehört zu den Hauptursachen für Tod und Krankheit in der Europäischen Region der WHO und ist für mehr als 20% aller Todesfälle verantwortlich. 

In den vergangenen zwei Jahren haben Krebsfrüherkennung, -diagnose und -therapie in nie da gewesenem Maße gelitten, da das Gesundheitswesen so mit dem Kampf gegen COVID-19 beschäftigt war. 

Sehen Sie sich die Zahlen an: 

  • in den frühen Phasen der Pandemie sank in Belgien die Zahl der Diagnosen invasiver Tumore um 44%*; 
  • in Italien verringerte sich von 2019 auf 2020 die Zahl der Früherkennungsuntersuchungen auf Darmkrebs um 46%**; 
  • in Spanien fiel 2020 die Zahl der Krebsdiagnosen um 34% niedriger als erwartet aus***. 



Der letzte von der WHO durchgeführte Global Pulse Survey, der sich mit der Kontinuität der gesundheitlichen Grundversorgung während der COVID-19-Pandemie befasste, kam zu dem Ergebnis, dass es im vierten Quartal 2021 in den an der Umfrage beteiligten Ländern zu einer Beeinträchtigung der Krebsversorgung (Früherkennung und Therapie) um zwischen 5% und 50% gekommen war. Die Situation hat sich seit dem ersten Quartal vergangenen Jahres verbessert, als die Versorgung in 44% der Länder um mehr als 50% und in den übrigen um 5% bis 50% beeinträchtigt war, doch die Folgen dieser Beeinträchtigung werden sich noch jahrelang bemerkbar machen. 

Weltweit verzeichneten 44% der Länder in der zweiten Jahreshälfte 2021 eine Zunahme der Rückstaus in der Krebsfrüherkennung. 

Die durch die Pandemie bedingten Verzögerungen in der Krebsversorgung und Rückstaus im Gesundheitswesen entfalten eine tödliche Wechselwirkung. 

Heute, 24 Monate nach Beginn der COVID-19-Pandemie, ist das Gesundheitspersonal überfordert und erschöpft – weil es zur Bewältigung der direkten Folgen des Virus einspringen musste. Doch jegliche Verschnaufpause, die dank einer breiten Immunität aufgrund von Impfungen und der weniger gefährlichen Omikron-Variante sowie der bevorstehenden Frühjahrs- und Sommersaison möglich wird, muss sofort dazu genutzt werden, dem Gesundheitspersonal eine Rückkehr zu anderen wichtigen Aufgaben zu ermöglichen, um den Rückstau bei der Versorgung chronisch Kranker abzubauen. In nächster Zeit muss die Aufrechterhaltung der gesundheitlichen Grundversorgung, einschließlich der Angebote entlang des Kontinuums der Krebsversorgung – von der Prävention und Früherkennung über Diagnose und Behandlung bis hin zur Palliativversorgung – zum festen Bestandteil der Notfallplanung und -bewältigung werden.

Der morgige Weltkrebstag ist eine aktuelle Erinnerung daran, dass 30% bis 40% der Krebsfälle in Europa und Zentralasien vermeidbar wären. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen neuen Leitfaden über Krebsfrüherkennung, in dem der aktuelle Kenntnisstand und ethische Aspekte zusammengefasst und falsche Vorstellungen ausgeräumt werden. Dies geschieht im Rahmen unserer vor einem Jahr gestarteten Initiative „Gemeinsam gegen Krebs“, mit der sich die WHO dazu verpflichtete, die Eliminierung von Krebs als lebensbedrohliche Krankheit in Europa und Zentralasien beschleunigt voranzutreiben – durch kosteneffektive, evidenzbasierte Konzepte in sämtlichen Bereichen der Krebsversorgung. 

Augenblicklich befinden wir uns angesichts rapide steigender Fallzahlen überall in Europa und Zentralasien an einem entscheidenden Punkt. Doch ich bin weiter zuversichtlich: Wenn wir die vor uns liegende Zeit sinnvoll nutzen, haben wir die Chance, in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen – in dem wir nicht nur COVID-19 bewältigen können, sondern auch in der Lage sein werden, uns anderen dringenden gesundheitlichen Prioritäten zuzuwenden. 

Ich freue mich, Ihnen nun Aron Anderson, den Botschafter von WHO/Europa für die Krebsbekämpfung, vorstellen zu können, eine treibende Kraft im Rahmen unserer Initiative „Gemeinsam gegen Krebs“.