Erklärung – Aktuelles zu COVID-19: Europa und Zentralasien wieder im Epizentrum der Pandemie, 04-11-2021

4 November 2021
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video:Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, 04-11-2021

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

4. November 2021

Guten Morgen, guten Tag!

Heute steht jedes Land in Europa und Zentralasien vor der realen Bedrohung eines Wiederanstiegs der Fallzahlen von COVID-19 oder ist bereits mitten im Kampf dagegen. Das aktuelle Tempo der Übertragung in den 53 Ländern der Europäischen Region der WHO ist wahrhaft besorgniserregend. Die Fallzahlen nähern sich wieder neuen Höchstständen, da die leichter übertragbare Delta-Variante weiterhin das Infektionsgeschehen in Europa und Zentralasien bestimmt.

Vergangene Woche verzeichneten Europa und Zentralasien knapp 1,8 Millionen neue Fälle und 24 000 neue Todesfälle, ein Anstieg um 6% bzw. 12% gegenüber der Vorwoche. In den vergangenen vier Wochen erlebte Europa einen Anstieg der Fallzahlen von COVID-19 um mehr als 55%.

Vergangene Woche entfielen 59% aller weltweit gemeldeten Fälle und 48% der gemeldeten Todesfälle auf Europa und Zentralasien. Damit liegt die Gesamtzahl der gemeldeten Fälle in der Europäischen Region mit 78 Mio. Fällen inzwischen höher als in den Regionen Südostasien, Östlicher Mittelmeerraum, Westlicher Pazifikraum und Afrika zusammen.

Wir sind also wieder im Epizentrum angelangt

Wir beobachten steigende Trends in allen Altersgruppen. Unsere größte Sorge ist der rapide Anstieg in den älteren Bevölkerungsgruppen seit der 38. KW, was sich in einer Zunahme der schweren Krankheitsverläufe und auch der Todesfälle niederschlägt. Derzeit treten über 75% der tödlichen Fälle bei Erwachsenen ab 65 Jahren auf.

Die Hospitalisierungsraten aufgrund von COVID-19 haben sich nach den neuesten Daten von WHO/Europa binnen einer Woche mehr als verdoppelt.

Nach einer zuverlässigen Projektion könnte uns in Europa und Zentralasien bei Fortsetzung dieser Trends bis zum 1. Februar eine weitere halbe Million Todesfälle aufgrund von COVID-19 drohen – und 43 Länder in unserer Region würden irgendwann während dieses Zeitraums vor einer hohen bis extremen Belastung hinsichtlich der Belegung von Krankenhausbetten stehen.

Warum also ist es in Europa und Zentralasien vier Wochen in Folge zu rapide ansteigenden Fallzahlen gekommen? Dafür gibt es zwei Gründe: erstens eine unzureichende Durchimpfung und zweitens die Lockerung gesundheitlicher und sozialer Maßnahmen.

1) Impfungen retten weiter Tausende und Abertausende Menschenleben

Trotz fast neuer Höchststände bei den COVID-19-Fallzahlen liegt die Zahl der neuen Todesfälle nur bei etwa der Hälfte der bisherigen Höchststände. Dies verdeutlicht die lebensrettende Wirkung von Impfstoffen und die Herkulesaufgabe, vor der Gesundheitsbehörden, Gesundheitspersonal und Bevölkerung bei der Entwicklung, Verabreichung und Inanspruchnahme von Impfstoffen stehen. Bisher wurden in Europa und Zentralasien eine Milliarde Dosen verimpft.

Dabei befinden sich die Länder Europas und Zentralasiens jedoch in jeweils unterschiedlichen Stadien ihrer Impfkampagnen. So sind im Durchschnitt nur 47% der Bevölkerung voll geimpft. Während acht Länder inzwischen eine Durchimpfung von über 70% aufweisen, liegt die Impfrate in zwei Ländern noch unter 10%.

Wo die Impfraten niedrig sind – wie in vielen Ländern der Baltikums, Mittel- und Osteuropas und des Balkans –, sind die Hospitalisierungsraten hoch.

Diese Unterschiede hinsichtlich der Durchimpfung spiegeln verschiedene Probleme bei den Impfkampagnen wider, aber auch einen Mangel an Vertrauen oder Sorglosigkeit in einigen Bevölkerungsgruppen. Es ist dringend geboten, dass die Behörden ihr Äußerstes tun, um das Impftempo zu erhöhen.

Wir müssen dafür sorgen, dass die Länder mit niedrigen Impfraten in den vorrangigen Gruppen ihre Impfraten erhöhen. Wir raten den Behörden, Personen mit moderaten und schweren Beeinträchtigungen des Immunsystems einen bis drei Monate nach Abschluss der primären Impfserie eine zusätzliche Dosis zu verabreichen und das Angebot einer zusätzlichen Dosis COVID-19-Impfstoff an alle Menschen über 60 Jahre in Erwägung zu ziehen.

Darüber hinaus appelliere ich auch dringend an die Länder, durch Impfstoffspenden weltweite Solidarität unter Beweis zu stellen.

Die Hospitalisierungsraten in Ländern mit niedrigeren Impfraten sind deutlich höher und steigen schneller als in Ländern mit höheren Impfraten. Ein Großteil der Menschen, die heute ins Krankenhaus eingeliefert werden oder an COVID-19 sterben, sind nicht vollständig geimpft.

Die Impfstoffe wiederum erfüllen genau ihren Zweck: sie verhindern schwere und tödliche Krankheitsverläufe.

2) Nun zur Lockerung der gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen

Impfstoffe sind unsere stärkste Waffe – wenn wir sie zusammen mit anderen Instrumenten sinnvoll einsetzen. Zuverlässige Projektionen zeigen: Wenn 95% der Bevölkerung in Europa und Zentralasien konsequent Masken trügen,  könnten bis zu 188 000 von der halben Million Menschenleben gerettet werden, die sonst bis Februar 2022 verloren gehen könnten.

Neben einer schnellen, gerechten und flächendeckenden Verteilung an alle in Fragen kommenden Personen bleiben auch Tests, Kontaktverfolgung, Belüftung von Innenräumen und Einhaltung von Abstandsgeboten weiterhin ein Teil unseres Verteidigungskonzepts.

Dies sind bewährte Maßnahmen, die eine Fortsetzung des Lebens bei gleichzeitiger Eindämmung des Virus und Vermeidung großflächiger und schädigender Lockdowns ermöglichen.

Wir müssen unsere Taktik ändern: von der Reaktion auf einen Wiederanstieg der Fallzahlen von COVID-19 hin zur Verhinderung eines solchen Anstiegs.

Angesichts der aktuellen Situation in Europa und Zentralasien stimmt es mich zuversichtlich, dass in den vergangenen zwei Wochen 23 Länder die sozialen Maßnahmen sinnvoll verstärkt haben. Gleichzeitig bin ich besorgt darüber, dass sieben Länder ihre Maßnahmen gelockert haben.

Zwar sollten die Maßnahmen der jeweiligen lokalen Epidemiologie angemessen sein, doch angesichts des allgegenwärtigen Wiederanstiegs der Fallzahlen von COVID-19 appelliere ich an jede einzelne Gesundheitsbehörde, derzeit jede Lockerung oder Aufhebung von Maßnahmen sorgfältig zu prüfen.

Korrekt und konsequent angewandte Präventivmaßnahmen ermöglichen uns eine Fortsetzung unseres Lebens und haben keine gegenteilige Wirkung. Präventivmaßnahmen berauben die Menschen nicht ihrer Freiheit, sondern sichern sie. Mit anderen Worten: Der sicherste Weg, Lockdowns zu vermeiden – die nur als absolut letztes Mittel eingesetzt werden dürfen –, besteht darin, solche Maßnahmen anzuwenden und die Übertragungsraten von COVID-19 niedrig zu halten.

Nun, zu Beginn der Grippesaison, droht uns ein gleichzeitiges Zirkulieren von Influenza und COVID-19. Doch gegen beide Viren wirken die gleichen Präventivmaßnahmen, und gegen beide stehen uns wirksame und sichere Impfstoffe zur Verfügung.

Wir sind an einem weiteren entscheidenden Punkt des Wiederaufflammens der Pandemie angelangt. Die Europäische Region liegt wieder im Epizentrum der Pandemie, wie schon vor einem Jahr. Der Unterschied liegt darin, dass wir heute mehr wissen und mehr tun können. Uns stehen mehr Instrumente und Mittel zur Verfügung, um den Schaden für Bevölkerung und Gesellschaft zu mildern und zu verringern.

Die aktuelle Situation und die alarmierenden kurzfristigen Prognosen müssen uns zum Handeln veranlassen.

Letztendlich werden wir diese Pandemie nur überwinden, wenn Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit an einem Strang ziehen. Wir müssen weiter vorsichtig bleiben, frühzeitig auf jede Veränderung der Lage reagieren und dem Virus einen Schritt voraus sein.

Ich danke Ihnen.