Video: Solidarität mit dem Gesundheitspersonal in der Ukraine am Weltgesundheitstag, 07-04-2022
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
7. April 2022
Guten Tag.
Ich spreche heute zu Ihnen aus der Stadt Lemberg in der westlichen Ukraine, von der aus die WHO ihre Arbeit in dem Land koordiniert.
Heute ist der Weltgesundheitstag, der Tag, an dem vor 74 Jahren unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs die Weltgesundheitsorganisation gegründet wurde, um den Grundsatz aufrechtzuerhalten, dass Gesundheit ein Menschenrecht ist und dass alle Menschen
ein Höchstmaß an Gesundheit genießen sollten.
Da ich selbst Arzt bin, möchte ich heute hier, in der Ukraine, meine Solidarität mit den Angehörigen der Gesundheitsberufe in diesem Land bekunden. Ich danke ihnen für ihre Einsatzbereitschaft und Professionalität, mit der sie
die Gesundheitsversorgung aufrechterhalten – angesichts unvorstellbaren menschlichen Leidens und vor dem Hintergrund grenzenloser Verwüstung, wie sie Pflegekräfte, Ärzte, Hebammen, Krankenwagenfahrer, Apotheker, Physiotherapeuten
und Sozialarbeiter eigentlich nie erleben müssen sollten.
Der Besuch verschafft mir die einzigartige Gelegenheit, mit an vorderster Linie eingesetzten Gesundheitsfachkräften, mit Partnern und mit Vertretern kommunaler und nationaler Behörden zu sprechen, Einblicke in die unmittelbaren und längerfristigen
gesundheitlichen Bedürfnisse in dem Land zu gewinnen und zu bestimmen, wie die WHO und ihre Partnerorganisationen am wirksamsten helfen können.
Am heutigen Weltgesundheitstag möchte ich nochmals die Entschlossenheit der WHO hervorheben, Gesundheit für alle zu ermöglichen – wo immer in den 53 Ländern der Europäischen Region der WHO sie sich befinden. Wir treten dafür
ein, dass niemand unter irgendwelchen Umständen auf die benötigten Arzneimittel, Behandlungen oder Leistungen verzichten muss. Ich stimme unserem Generaldirektor zu, der im Namen der WHO die Russische Föderation konsequent zu einem
sofortigen humanitären Waffenstillstand aufgefordert hat, der allen Hilfebedürftigen einen ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe ermöglicht.
Angesichts der aktuellen Lage verfolgt die WHO das übergeordnete Ziel, dafür zu sorgen, dass die Menschen einen dauerhaften Zugang zur gesundheitlichen Grundversorgung erhalten und dass wir auf die sich wegen des Krieges verändernden gesundheitlichen
Bedürfnisse reagieren können.
Unsere Aktivitäten stützen sich auf drei Prioritäten:
Erstens die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des ukrainischen Gesundheitssystems. Schon vor dem 24. Februar hatten wir Hilfsgüter in Stellung gebracht, und seitdem arbeiten wir in enger Abstimmung mit nationalen und kommunalen
Behörden sowie insgesamt mehr als 80 Partnerorganisationen an der Aufrechterhaltung der Versorgung im ganzen Land.
Wir haben über 185 Tonnen an medizinischen Hilfsgütern in die am stärksten betroffenen Gebiete geliefert und konnten mit Material für die Bereiche Traumaversorgung, Chirurgie und primäre Gesundheitsversorgung eine halbe Million
Menschen erreichen. Vergangene Woche konnten wir Hilfsgüter in die umzingelte Stadt Sumy bringen. Weitere 125 Tonnen unentbehrlicher Güter sind auf dem Weg. Hilfsmittel wie Rollstühle, andere Mobilitätshilfen und Kommunikationshilfen
für Blinde sind unterwegs und werden demnächst in der ganzen Ukraine verteilt.
In der Ukraine leben nach Schätzungen etwa 260 000 Menschen mit HIV. Erst in dieser Woche konnten wir zusammen mit dem Aids-Nothilfeplan des Präsidenten der Vereinigten Staaten (PEPFAR), mit den ukrainischen Behörden und mit Partnerorganisationen
die Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten sicherstellen, sodass nun ein Großteil des Bedarfs sämtlicher nachweislich mit HIV lebender Personen in der Ukraine für die nächsten zwölf Monate gedeckt ist.
Wir verfügen über ein voll funktionsfähiges Büro in Lemberg und bauen in Dnipro in der östlichen zentralen Ukraine eine Betriebszentrale auf, um schneller Ressourcen mobilisieren und die am stärksten gefährdeten Menschen
in den Konfliktgebieten besser mit dringend benötigten Hilfsgütern erreichen zu können.
Angesichts der Unwägbarkeiten der aktuellen Lage gibt es keine Gewissheit, dass sich der Krieg nicht noch verschärfen wird. Deshalb prüft die WHO alle Szenarien und erstellt Notfallpläne für verschiedene Situationen, die für
die Menschen in der Ukraine entstehen könnten, von Massenverlusten bis zu Angriffen mit Chemiewaffen.
Unsere zweite Priorität besteht darin, mit den Nachbarländern der Ukraine und mit Ländern in der gesamten Europäischen Region und darüber hinaus darauf hinzuarbeiten, dass die gesundheitlichen Bedürfnisse
der Kriegsflüchtlinge erfüllt werden, dass Flüchtlinge mit besonderen Bedürfnissen weiter behandelt und versorgt werden können und dass die Gesundheitssysteme der Gastländer den großen Zustrom von Flüchtlingen
bewältigen können.
Seit 24. Februar sind schon mehr als 4,2 Mio. Menschen aus der Ukraine geflohen. Ich danke den Zielländern in der gesamten Europäischen Region für ihre Entschlossenheit, für die Gesundheitsversorgung der Neuankömmlinge aufzukommen,
bin mir aber im Klaren darüber, dass dies eine Herausforderung und zusätzliche Belastung für ohnehin bereits überlastete Gesundheitssysteme darstellt. Wir bemühen uns zusammen mit den zuständigen nationalen Behörden
um Überwindung von Defiziten und eine bedarfsgerechte Lieferung von Gütern, etwa für Routineimpfungen für Kinder.
Die WHO stimmt sich bei der Triage der ankommenden Patienten auch mit der Europäischen Union ab, damit diese in einem EU-Land Aufnahme finden, das über die besten Voraussetzungen für ihre Behandlung verfügt.
Darüber hinaus leiten wir auch Unterstützung aus ferneren Quellen weiter. So hat die Asien-Europa-Stiftung 9,5 Mio. US-$ aus Japan bereitgestellt, um dringend benötigte Geräte zu beschaffen und Leistungen zur Bewältigung von COVID-19,
aber auch anderen übertragbaren Krankheiten wie Masern und Polio zu ermöglichen, und zwar für die Ukraine wie auch ihre Nachbarländer.
Drittens unterstützen wir das Gesundheitsministerium beim Wiederaufbau des ukrainischen Gesundheitssystems zum Besseren. Die WHO verfügt seit 1994 über eine direkte Präsenz in der Ukraine, mit der sie das Land bei der Stärkung
seines Gesundheitssystems, und insbesondere der primären Gesundheitsversorgung und der Gesundheitsfinanzierung, unterstützt.
Seit 2015 und bis 24. Februar diesen Jahres war die Regierung der Ukraine dabei, das gesamte Gesundheitssystem zu reformieren und in Richtung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zu steuern. Das Land hat ausgezeichnete Fortschritte bei einer Reihe
konkreter Herausforderungen erzielt, vor allem eine Trendwende bei der Bekämpfung von Tuberkulose und HIV. Es wurde zum Aushängeschild für vorbildliche Praktiken in Osteuropa, indem es in den vergangenen 15 Jahren dank Investitionen
in moderne Diagnosetechnologien zur schnellen Erkennung von Tuberkuloseinfektionen sowie in effektive Behandlungsverläufe für multiresistente Tuberkulose (MDR-Tb) seine Tuberkuloseinzidenz um fast die Hälfte reduzierte.
Während des Krieges sind wir fest entschlossen, die Ukraine weiter zu unterstützen und diese Dynamik aufrechtzuerhalten.
Die WHO bereitet sich im Zuge der Verbesserung von Zugang und Sicherheit auf eine erneute Entsendung von Teams in verschiedene Landesteile vor. Wir sind entschlossen, in hohem Maße dezentralisiert vorzugehen, sowohl bei der aktuellen humanitären
Krisenhilfe als auch bei der Unterstützung der kommunalen und nationalen Behörden beim Wiederaufbau des vom Krieg schwer getroffenen Gesundheitssystems.
Gesundheit braucht Frieden, Wohlbefinden braucht Hoffnung, und Heilung braucht Zeit.
Ich spreche hier im Namen der gesamten Familie der WHO, wenn ich sage, dass es mein tiefster Wunsch ist, dass dieser Krieg schnell und ohne weiteren Verlust von Menschenleben beendet wird. Leider ist das nicht die Realität, die wir gerade beobachten.
Mit aktuellem Stand hat die WHO insgesamt 91 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bestätigen können; die Durchimpfung gegen Polio und Masern liegt unterhalb der für eine Bevölkerungsimmunität erforderlichen Schwelle; 50% der
Apotheken in der Ukraine gelten als geschlossen; und 1000 Gesundheitseinrichtungen liegen in der Nähe von Konfliktgebieten oder in Gebieten, die mittlerweile unter fremder Kontrolle stehen. In den nächsten drei Monaten werden wegen des anhaltenden
Konflikts etwa 80 000 Neugeborene eine unzureichende vor- und nachgeburtliche Versorgung erhalten.
In dieser düsteren Zeit möchte ich Ihnen versichern, dass die WHO fest entschlossen ist, sowohl kurz- als auch längerfristig in der Ukraine präsent zu sein und sich mit den unmittelbaren gesundheitlichen Herausforderungen und mit den
Anforderungen des künftigen Wiederaufbaus zu befassen. Ich möchte nochmals allen an vorderster Linie tätigen Einsatzkräften in der Ukraine aus tiefstem Herzen dafür danken, dass sie die Gesundheit der Menschen schützen.
Unser Mandat und unsere humanitären Grundsätze verpflichten uns, Gesundheit für alle Menschen zu gewährleisten – auch für die Ärmsten und Anfälligsten – wo immer sie auch sein mögen.
Wir haben uns auf verschiedene Eventualitäten vorbereitet und sind darauf gefasst, dass sich die gesundheitlichen Herausforderungen noch verschärfen, bevor eine Verbesserung der Lage eintritt.
Doch wie die lange Geschichte und Erfahrung der WHO lehrt, wird irgendwann eine solche Verbesserung kommen.
Die lebensrettende Medizin für die Ukraine ist jetzt Frieden.
Vielen Dank.