Erklärung – Aktuelles zu COVID-19: Wir müssen in dieser Krise vom Reaktions- in den Stabilisierungsmodus übergehen

7 December 2021
Statement
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Video: Statement by Dr Hans Henri P. Kluge, WHO Regional Director for Europe, 07-12-2021


Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

7. Dezember 2021

Guten Morgen, guten Tag und guten Abend!

Im vergangenen Monat haben wir davor gewarnt, dass wir bis Anfang 2022 eine weitere halbe Million Menschenleben zu beklagen haben könnten, wenn wir nicht dringend handeln. Wir haben die Regierungen und die Menschen dazu aufgefordert, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die Übertragungsraten zu senken, und zwar mit Hilfe von fünf Maßnahmen zur Stabilisierung der Pandemie.

Nun ist ein Monat vergangen und 120 000 weitere Menschen sind gestorben, und die Europäische Region der WHO verzeichnet 10 Millionen weitere COVID-19-Fälle. Zum Ende dieser Woche wird sich in allen Teilen Europas und Zentralasiens jeder Zehnte nachweislich mit COVID-19 infiziert haben.

Während das Jahresende und die Feiertage näher rücken, erreichen die gemeldeten Todesfälle infolge von COVID-19 einen Höchststand: nahezu 4100 Todesfälle pro Tag, das sind doppelt so viele wie noch Ende September 2021, als wir 2100 Todesfälle pro Tag verzeichneten. Die Gesamtzahl der gemeldeten Todesfälle aufgrund von COVID-19 hat für die 53 Länder in unserer Region vor zwei Wochen eine Marke von 1,5 Millionen überschritten.

Die Melderaten sind in allen Altersgruppen gestiegen, wobei die höchsten Raten gegenwärtig auf die Altersgruppe der 5–14-Jährigen entfallen.

Während sich die Fallzahlen und die Zahl der Todesfälle in den letzten zwei Monaten mehr als verdoppelt haben, ist die Zahl der Todesfälle aufgrund von COVID-19 deutlich unter den bisherigen Höchstwerten geblieben. Ohne die Impfungen wären die Sterblichkeitsraten also weitaus höher.

55% aller Menschen in Europa und Zentralasien sind vollständig geimpft, und 43 der 53 Mitgliedstaaten in der Region bieten mittlerweile Auffrischimpfungen für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen an.

Studien von WHO/Europa und dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten ergaben, dass von Dezember 2020 bis November 2021 mindestens 470 000 Menschenleben unmittelbar durch die COVID-19-Impfungen gerettet werden konnten.

Dies ist eine überwältigende Bekräftigung des Wertes von Impfstoffen und Wissenschaft, ein Zeugnis des Engagements von Regierungen und Gesundheitsfachkräften und vor allem eine deutliche Anerkennung der Akzeptanz und Unterstützung des Kampfes gegen diese Pandemie durch die Bevölkerung.

Die Delta-Variante bestimmte nach wie vor das Infektionsgeschehen in ganz Europa und Zentralasien, und wir wissen, dass die COVID-19-Impfstoffe weiterhin wirksam vor schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen schützen.

Es bleibt abzuwarten, ob und inwiefern die neueste besorgniserregende COVID-19-Variante, Omikron, leichter übertragbar ist oder schwerere oder leichtere Fälle verursacht. Die uns zu dieser Variante zur Verfügung stehenden Informationen sind bisher noch vorläufig und entwickeln sich stetig weiter, auch hinsichtlich der Wirksamkeit unserer Gegenmaßnahmen, einschließlich unserer Impfstoffe, Diagnostika und Therapeutika.

Dies bringt mich zu meiner dreifachen Aufforderung für den heutigen Tag:

  1. von einem reaktiven Modus zur Stabilisierung der Krise überzugehen
  2. Kinder und Schulen als Teil der Strategie im Kampf gegen COVID-19 zu schützen
  3. keine Verordnungen zu erlassen, ohne zunächst den Dialog mit der Bevölkerung zu suchen.

Als Erstes fordere ich dazu auf, in dieser Krise vom Reaktions- in den Stabilisierungsmodus überzugehen. Es gibt fünf Maßnahmen zur Stabilisierung der Pandemie, mit deren Hilfe wir die Sterblichkeitsraten niedrig halten können:

  • die Erhöhung der Impfquote
  • die Verabreichung von Auffrischimpfungen
  • die Verdopplung der Quote der Einhaltung der Maskenpflicht in Innenräumen
  • die Belüftung überfüllter Räumlichkeiten
  • die Umsetzung rigoroser therapeutischer Protokolle für schwere Fälle.

Zweitens fordere ich dazu auf, eine COVID-19 sichere Lernumgebung für Kinder zu schaffen, damit wir die Schließung von Schulen und die Rückkehr zum Fernunterricht vermeiden können.

Nicht selten ist die Inzidenz unter Kindern derzeit 2–3-mal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Und die Gesundheitsrisiken gehen dabei über die Kinder selbst hinaus. Angesichts der bevorstehenden Schulferien müssen wir anerkennen, dass Kinder ihre Eltern und Großeltern zu Hause anstecken und dass diese Erwachsenen ein zehnmal höheres Risiko haben, schwer zu erkranken, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden oder zu sterben, wenn sie nicht geimpft sind.

Das Tragen von Schutzmasken, eine gute Belüftung und regelmäßige Tests sollten an allen Grundschulen Standard sein und die Impfung von Kindern sollte im Rahmen der Maßnahmen zum Schutz der Schulen landesweit diskutiert und in Betracht gezogen werden. Eine Impfung jüngerer Kinder reduziert nicht nur deren Rolle bei der Übertragung von COVID-19, sondern schützt sie auch vor einem schweren Krankheitsverlauf, sei es in Verbindung mit Long COVID oder mit einem multisystemischen Entzündungssyndrom.

Zu guter Letzt fordere ich dazu auf, keine Impfpflicht zu erlassen, ohne zunächst den Dialog mit der Bevölkerung zu suchen. Eine Impfpflicht sollte wirklich nur als letztes Mittel verhängt werden und nur, wenn alle anderen möglichen Optionen zur Erhöhung der Impfquoten erschöpft sind.

In einigen Umfeldern hat sich eine Impfpflicht als wirksam erwiesen, um die Impfquote zu erhöhen, doch die Wirksamkeit derartiger Verordnungen ist sehr kontextabhängig. Die Auswirkungen, die eine Impfpflicht auf das Vertrauen und die Zuversicht der Öffentlichkeit sowie auf die Impfquote haben könnte, müssen daher genau geprüft werden: was in einer Gesellschaft oder Gemeinschaft annehmbar ist, mag in einer anderen nicht wirksam und annehmbar sein.

Derartige Verordnungen müssen mit angemessenen politischen Erwägungen, einem umfassenden Umsetzungsplan, einschließlich Bestimmungen zu Ausnahmen, und einer starken Kommunikationskomponente für die Bevölkerung einhergehen. Letztendlich sollte eine derartige Pflicht niemals zur Verschärfung sozialer Benachteiligungen beim Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen beitragen.

Jegliche Maßnahmen, die das Recht oder die Bewegung einer Person einschränken, wie Lockdowns oder Verordnungen, müssen die psychische Gesundheit und das geistige Wohlbefinden, ein Mittel zur Prävention/frühzeitigen Entdeckung von und zum Umgang mit häuslicher Gewalt sowie mikroökonomische Maßnahmen zur Unterstützung der am stärksten von derartigen Verordnungen Betroffenen gewährleisten.

Sei es also mit Blick auf Punkt 1 – die Stabilisierung von COVID-19 –, Punkt 2 – ein sicherer Schulbetrieb – oder Punkt 3 – der Dialog über die Erlassung von Verordnungen und andere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Gesellschaft – der Dialog mit den Gemeinschaften muss auch weiterhin das Kernstück unserer Gegenmaßnahmen bleiben.

Omikron ist in Sichtweite und auf dem Vormarsch, und wir sind zu Recht besorgt und vorsichtig. Doch, wie gesagt, das gegenwärtige Problem ist Delta, und wie erfolgreich wir im Kampf gegen Delta heute sind, ist auch entscheidend im Kampf gegen Omikron morgen – bevor die entsprechenden Fallzahlen am Ende stark ansteigen.

Es ist unsere Aufgabe, die Pandemie zu stabilisieren, und das bedeutet, nicht eine Variante nach der anderen, sondern alle Varianten gleichzeitig zu bekämpfen.

Vielen Dank.