Kopenhagen, 10. Oktober 2025
Ärzte und Pflegekräfte in der Europäischen Region arbeiten unter Bedingungen, die ihrer psychischen Gesundheit und ihrem Wohlbefinden schaden, und ein beunruhigend hoher Anteil von ihnen hat passive Suizidgedanken oder Gedanken an Selbstverletzung. So lautet das wichtigste Ergebnis einer bahnbrechenden neuen Studie von WHO/Europa, die am heutigen Welttag der psychischen Gesundheit veröffentlicht wurde.
Bei dieser bisher größten Untersuchung zur psychischen Gesundheit von Pflegekräften und Ärzten (MeND) wurden über 90 000 Antworten aus allen 27 Ländern der Europäischen Union sowie Island und Norwegen gesammelt und ausgewertet. Die Ergebnisse, einschließlich der Aufschlüsselung nach Ländern, verdeutlichen die wahren Kosten jahrelang unzureichender Investitionen in die Gesundheitssysteme und das Gesundheitspersonal in der Europäischen Region.
Wichtigste Ergebnisse
Im vergangenen Jahr erlebte ein Drittel aller Ärzte und Pflegekräfte Mobbing oder gewalttätige Drohungen am Arbeitsplatz, und 10 % erlebten körperliche Gewalt oder sexuelle Belästigung.
Ein Viertel aller Ärzte arbeitet mehr als 50 Stunden pro Woche. Inzwischen haben fast ein Drittel (32 %) aller Ärzte und ein Viertel (25 %) der Pflegekräfte befristete Arbeitsverträge, was in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Sorge um die Arbeitsplatzsicherheit steht.
Zu den besorgniserregendsten Ergebnissen gehört, dass ein Zehntel der Ärzte und Pflegekräfte angab, in den letzten zwei Wochen daran gedacht zu haben, „besser tot zu sein“ oder „sich selbst zu verletzen“. Bekanntermaßen eignen sich diese sog. „passiven“ Suizidgedanken als Prädiktor für künftiges suizidales Verhalten.
Derartige Unsicherheit am Arbeitsplatz steht in direktem Zusammenhang mit psychischen Gesundheitsproblemen. Ärzte und Pflegekräfte, die Gewalt erleben, durchgehend lange Arbeitszeiten haben und im Schichtdienst arbeiten (vor allem nachts), leiden deutlich häufiger unter Depressionen und Angstzuständen und haben häufiger Suizidgedanken. Tatsächlich sind Suizidgedanken bei Ärzten und Pflegekräften doppelt so häufig wie in der Allgemeinbevölkerung.
„Die Ergebnisse der MeND-Erhebung erinnern uns eindringlich daran, dass die Gesundheitssysteme in der Europäischen Region nur so stark sind wie die Menschen, die sie am Laufen halten“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Ein Drittel aller Ärzte und Pflegekräfte berichtet über Depressionen oder Angstzustände, und mehr als ein Zehntel von ihnen hat schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen oder sich selbst zu verletzen. Dies ist eine unzumutbare Belastung für diejenigen, die für uns sorgen. Aber es muss nicht so sein.“
„Wir können jetzt konkrete Maßnahmen ergreifen, wie die Durchsetzung von null Toleranz gegenüber Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz im Gesundheitswesen, die Reformierung von Schichtplänen und Überstunden, um der Kultur der Arbeit bis zur Erschöpfung ein Ende zu setzen, die Verringerung der übermäßigen Arbeitsbelastung durch Investitionen in eine intelligentere Personalgewinnung und optimierte Arbeitsabläufe, auch unter gezielter Nutzung digitaler Technologien wie KI, und schließlich die Gewährleistung, dass alle Beschäftigten im Gesundheitswesen Zugang zu vertraulicher psychologischer Betreuung ohne Stigmatisierung haben. Gleichzeitig müssen wir von den Verantwortlichen im Gesundheitswesen die Schaffung eines sicheren und stützenden Arbeitsumfelds einfordern. Letztlich ist die Krise der psychischen Gesundheit unseres Gesundheitspersonals eine Krise der Gesundheitssicherheit, die die Integrität unserer Gesundheitssysteme bedroht.“
Zielstrebig trotz des Drucks
Trotz psychischer Gesundheitsprobleme und ungünstiger Arbeitsbedingungen waren drei Viertel der Ärzte und zwei Drittel der Pflegekräfte fest davon überzeugt, eine sinnvolle Arbeit zu haben, und äußerten sich überwiegend zufrieden darüber. Dies deutet darauf hin, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen ihren Beruf mit Leib und Seele ausüben, aber gezielte Unterstützung benötigen, um ihre Arbeit erledigen und die Patienten wirksam versorgen zu können.
„Wir sind körperlich und psychisch erschöpft, was leider manchmal zu medizinischen Fehlern führen kann“, sagt Mélanie Debarreix, eine Radiologin aus Frankreich. „Diese Arbeitsbedingungen haben einen großen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit und unser Wohlbefinden. In Frankreich haben 66 % der Medizinstudenten in den vergangenen zwölf Monaten eine depressive Episode erlebt, und 21 % hatten Suizidgedanken – dreimal so viel wie in der Allgemeinbevölkerung. Zum Schutz unserer psychischen Gesundheit und unseres Wohlbefindens wären in erster Linie die strikte Durchsetzung des Gesetzes über die Arbeitszeiten oder obligatorische Ruhezeiten nach Bereitschaftsschichten erforderlich, aber auch die Bereitstellung ausreichender Finanzmittel, die es uns ermöglichen, im Einklang mit unseren Werten zu arbeiten. Wir haben uns für einen Weg der Menschlichkeit entschieden, aber das bedeutet nicht, dass wir aufhören, selbst Menschen zu sein.“
Die Rückgrat der Gesundheitsversorgung: die Beschäftigten
Unsichere Arbeitsbedingungen mit unzureichender Unterstützung führen bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen häufig zu Stressbelastung, Angstzuständen und Depressionen, und das betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch die Patienten und die Gesellschaft insgesamt. Je nach Land gaben bis zu 40 % der Ärzte und Pflegekräfte mit Symptomen von Depressionen an, innerhalb der vergangenen zwölf Monate krankgeschrieben gewesen zu sein. Zwischen 11 % und 34 % der Beschäftigten im Gesundheitswesen gaben an, dass sie darüber nachdenken, ihren Arbeitsplatz aufzugeben. Dieser Kompetenzverlust kann dazu führen, dass Patienten längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen und die Qualität der Versorgung sinkt und dass die Gesundheitssysteme wichtiges Personal verlieren. Am Ende zahlen alle den Preis.
„Der Druck, dem Ärzte und Pflegekräfte ausgesetzt sind, mag in der Europäischen Region je nach Land unterschiedlich aussehen – lange Arbeitszeiten in einem Land, befristete Verträge in einem anderen oder Gewalt am Arbeitsplatz in einem dritten; aber die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit sind überall gegeben“, sagte Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, Leiterin der Abteilung Gesundheitssysteme bei WHO/Europa. „Wir messen die Krankenhauskapazitäten anhand der Bettenzahl, und die Resultate in der Chirurgie anhand der Überlebensraten – doch allzu oft versäumen wir es, das Wohlbefinden derjenigen zu messen, die die Gesundheitsversorgung leisten. Diese Ergebnisse zeigen, dass die psychische Gesundheit ebenso wie die Patientensicherheit oder die Krankenhauskapazitäten als ein zentrales Maß für die Leistungsfähigkeit behandelt werden muss. Die Resilienz unserer Gesundheits- und Pflegesysteme ist nur so gut wie die Resilienz der Frauen und Männer, die ihr Leben der Versorgung und Pflege anderer widmen.“
Diese Ergebnisse verleihen dem von WHO/Europa 2022 veröffentlichten Bericht mit dem Titel „Zeit zu handeln“ zusätzliches Gewicht, der zu dem Schluss kam, dass die Einstellung von Gesundheits- und Pflegepersonal nicht mit dem steigenden Bedarf Schritt hält, was einen unerträglichen Druck auf unsere Gesundheitssysteme und ihre Beschäftigten ausübt. Wenn nicht gehandelt wird, werden in der Europäische Region bis 2030 nach Prognosen 940 000 Fachkräfte im Gesundheitswesen fehlen.
Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen würde dazu beitragen, den Krankenstand zu verringern und das Personal davon abzuhalten, den Beruf ganz aufzugeben, und gleichzeitig mehr Ärzte und Pflegekräfte für den Beruf zu gewinnen. Dies wiederum würde dazu beitragen, die Gesundheitssysteme in der Europäischen Region auf die derzeitigen und künftigen demografischen Veränderungen und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorzubereiten, damit sie künftigen gesundheitlichen Notlagen besser standhalten können.
In dem Bericht werden sieben dringende Grundsatzmaßnahmen skizziert, die die Länder ergreifen müssen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Organisationskultur zu verändern, und die allesamt durch die Umwidmung vorhandener Ressourcen erreicht werden können. Dies sind:
- Null-Toleranz gegenüber jeglicher Art von Gewalt
- Verbesserung der Vorhersehbarkeit und Flexibilität von Schichten
- Faire Handhabung von Überstunden und Aufbau einer positiven Arbeitsplatzkultur
- Bekämpfung übermäßiger Arbeitsbelastungen
- Schulung von Führungskräften und Erinnerung an ihre Verantwortung
- Erweiterung des Zugangs zu psychologischer Betreuung
- Regelmäßige Überwachung des Wohlbefindens des Gesundheitspersonals und entsprechende Berichterstattung.
„Angesichts der Tatsache, dass in Europa bis 2030 wahrscheinlich fast eine Million Gesundheitsfachkräfte fehlen werden, können wir es uns nicht leisten, sie infolge von Burnout, Verzweiflung oder Gewalt zu verlieren. Ihr Wohlbefinden ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern vielmehr die Grundlage für eine sichere und qualitativ hochwertige Versorgung aller Patienten“, sagte Dr. Kluge abschließend. „Diese Untersuchung muss ein dringend notwendiger Weckruf sein, der zum Handeln veranlasst.“
Hinweise an Redakteure
Die MeND-Erhebung wurde im Rahmen des von der Europäischen Kommission finanzierten Projekts von WHO/Europa mit dem Titel „Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union, Island und Norwegen“ durchgeführt. Sie lief von Oktober 2024 bis April 2025 und wurde über sechs europäische Berufsverbände von Ärzten und Pflegekräften sowie die ihnen angeschlossenen nationalen Verbände verbreitet. Die Gesamtzahl der Antworten belief sich auf etwa 120 000; davon wurden 90 171 gültige Antworten in der abschließenden Analyse berücksichtigt. In den 29 Ländern, aus den Antworten eingingen, lag die Rücklaufquote je nach Berufsgruppe zwischen unter 1 % und 34 %, aber die Alters- und Geschlechtsverteilung entsprach im Großen und Ganzen der Gesamtverteilung unter den Beschäftigten im Gesundheitswesen. Bei der Erhebung handelte es sich um eine Querschnittsstudie, sodass die beobachteten Zusammenhänge nicht als kausal angesehen werden können.