Erklärung – Omikron-Welle bedroht Einsatzbereitschaft des Gesundheitspersonals

11 January 2022
Statement
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Video: Statement by Dr Hans Henri P. Kluge, WHO Regional Director for Europe, 11-01-2022

 

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

11. Januar 2022


Guten Morgen, guten Tag und guten Abend! 

Zu Beginn des Jahres 2022 stehen die Länder Europas und Zentralasiens weiter unter erheblicher Belastung aufgrund von COVID-19. 

Heute spült die Omikron-Variante von Westen nach Osten wie eine neue Flutwelle über die Europäische Region und schließt sich an den Anstieg der Fallzahlen durch Delta an, den alle Länder bis Ende 2021 erlebten. Die Reaktion der einzelnen Länder muss jeweils nach Maßgabe ihrer epidemiologischen Situation, der verfügbaren Ressourcen, der Impfraten und der sozioökonomischen Rahmenbedingungen erfolgen. 

Die Europäische Region hat in der ersten Woche des Jahres 2022 über 7 Mio. neu gemeldete Fälle von COVID-19 verzeichnet – mehr als eine Verdopplung innerhalb von zwei Wochen.

Mit Stand vom 10. Januar berichteten 26 Länder, dass sich pro Woche mehr als 1% ihrer Bevölkerung mit COVID-19 infizieren. 

Die Mortalitätsraten bleiben stabil und sind weiterhin in Ländern mit hoher Inzidenz von COVID-19 und niedriger Durchimpfung am höchsten. 

Inzwischen haben 50 der 53 Länder Europas und Zentralasiens Fälle der Omikron-Variante gemeldet. Sie entwickelt sich schnell zur dominanten Variante in Westeuropa und breitet sich nun auch auf dem Balkan aus. 

Angesichts dieses Tempos prognostiziert das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME), dass sich in den nächsten sechs bis acht Wochen über 50% der Bevölkerung in der Europäischen Region mit Omikron infizieren werden. 

Die in den vergangenen Wochen zusammengestellten Daten bestätigen, dass Omikron leicht übertragbar ist – da es seine Mutationen ihm erlauben, leichter an menschliche Zellen anzudocken, sodass es sogar Genesene oder Geimpfte infizieren kann. 

Ich möchte nochmals wiederholen, dass die bisher zugelassenen Impfstoffe weiterhin einen guten Schutz vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen bieten, auch bei der Omikron-Variante. 

Doch wegen des beispiellosen Tempos der Übertragung erleben wir nun einen Anstieg der Hospitalisierungsraten aufgrund von COVID-19. Er stellt in vielen Ländern, in denen sich Omikron schnell ausgebreitet hat, die Gesundheitssysteme und ihr Personal vor große, oft kaum zu bewältigende Herausforderungen. 

Wie gesagt: Die größte Last bei der Bekämpfung dieser Pandemie tragen unsere Gesundheits- und Pflegeberufe und andere systemrelevante Einsatzkräfte. Sie sind auch dem Virus am stärksten ausgesetzt. Angesichts der enormen Kraftanstrengung unseres Gesundheitspersonals zu Beginn dieses dritten Pandemiejahres rufe ich dazu auf, mehr für ihre psychische Gesundheit und ihr seelisches Wohlbefinden zu tun. Sorgen Sie für ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden, indem Sie ihnen zuhören und ihre Anliegen und Sorgen ernst nehmen, etwa indem Sie in jeder Gesundheitseinrichtung eine Ansprechperson für psychische Gesundheit ernennen. 

Ich bin auch zutiefst besorgt darüber, wie sich die neue Variante nach Osten hin ausbreitet, denn wir haben ihre vollen Auswirkungen in Ländern mit einer niedrigeren Durchimpfung noch nicht gesehen, wo es zu mehr schweren Krankheitsverläufen bei Ungeimpften kommen wird. So war in Dänemark, wo die Zahl der Omikron-Fälle in den vergangenen Wochen förmlich explodiert ist, die Hospitalisierungsrate aufgrund von COVID-19 in der Woche um Weihnachten bei Ungeimpften sechsmal so hoch wie bei Personen mit vollständigem Impfschutz. Daten aus dem Surveillance-System für Geburtshilfe im Vereinigten Königreich ergaben, dass 96% der zwischen Mai und Oktober 2021 mit Symptomen von COVID-19 eingelieferten Schwangeren ungeimpft waren und ein Drittel von ihnen beatmet werden musste.

Während wir uns auf das vor uns Liegende vorbereiten, habe ich heute im Hinblick auf die Bewältigung der Folgen für Gesundheitswesen, Volkswirtschaften und Gesellschaften drei wesentliche Botschaften für Sie.

Erstens: Für Länder, die noch nicht von der Omikron-Welle ergriffen wurden, gibt es jetzt noch eine letzte Gelegenheit, zu handeln und für Notfälle zu planen. Omikron breitet sich schneller und weiter aus als jede andere Variante von SARS-CoV-2, die wir bisher erlebt haben. Deshalb appellieren wir dringend an diese Länder, das Tragen von hochwertigen Masken in Innenräumen und anderen geschlossenen Räumlichkeiten anzuordnen und dafür zu sorgen: dass schutzbedürftige Personen Zugang zu ihnen erhalten; dass die Menschen dabei unterstützt werden, sich so bald wie möglich eine vollständige Impfung sowie eine Auffrischungsimpfung zu sichern, und dafür zu sorgen, dass die Gesundheitsberufe und andere systemrelevante Kräfte einen frühzeitigen Zugang zu Auffrischungsimpfungen erhalten, um die Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten; dass die Bevölkerung über die Notwendigkeit einer sofortigen Isolierung bei Auftreten von Symptomen aufgeklärt wird, da sich das Virus in den wenigen Tagen vor und nach den ersten Symptomen am leichtesten ausbreitet; und dass sie erforderlichenfalls darüber Bescheid wissen, wie sie sich testen können und wie sie bei Symptomen oder einem positiven Testergebnis ihre Kontaktpersonen informieren können. 

Dies ist ein äußerst wichtiger Augenblick im Hinblick auf die Vorbereitung der Reaktionssysteme: durch verstärkte Anschaffung von Tests und deren umfassende kostenlose Bereitstellung in Apotheken, am Arbeitsplatz und in der Bevölkerung, und insbesondere für systemrelevante Kräfte. 

Zweitens sollte dort, wo die Omikron-Welle schon im Gange ist, vor allem auf Schadensvermeidung und -begrenzung bei den besonders anfälligen Gruppen geachtet und die Beeinträchtigung von Gesundheitssystemen und unentbehrlichen Angeboten vermieden werden. 

Dies bedeutet, dass bei der Erstimpfung wie auch bei Auffrischungsimpfungen schutzbedürftige Personen Vorrang erhalten müssen und dass ihnen geraten werden sollte, geschlossene und überfüllte Räume zu meiden, und dass sie nach Möglichkeit die Gelegenheit zum Arbeiten von zuhause aus erhalten sollten, bis die große Infektionswelle vorüber ist. Dort, wo Tests nicht ausreichend vorhanden sind, sollten PCR-Tests vorrangig bei Personen eingesetzt werden, die in Bezug auf einen schweren Krankheitsverlauf besonders gefährdet sind, sowie in den Gesundheitsberufen und bei anderen systemrelevanten Kräften und beim Auftreten der ersten Symptome eines vermuteten Ausbruchs bei Personen in einem besonders gefährdeten Umfeld wie einer Einrichtung der Langzeitpflege. Setzen Sie verstärkt Schnelltests ein. Dort, wo die Kontaktverfolgung überlastet ist, sollten solche Kontaktpersonen Vorrang erhalten, die ein hohes Infektionsrisiko tragen, aber auch Personen, denen bei Infektion ein schwerer Verlauf droht (Kontaktpersonen im Haushalt oder schutzbedürftige Personen), sowie Personen in stark gefährdeten Umfeldern. Dort, wo die Ressourcen in den Krankenhäusern knapp sind, sollten Sie die primäre Gesundheitsversorgung bei der frühzeitigen Steuerung, Vorsorgeuntersuchung, Triage und klinischen Bewertung von Fällen intensivieren, um unnötige Krankenhauseinweisungen zu vermeiden. 

Entscheidungen zur Verkürzung der empfohlenen Quarantäne- oder Isolationszeiten sollten grundsätzlich in Verbindung mit negativen COVID-19-Tests und nur bei unbedingter Notwendigkeit zwecks Aufrechterhaltung unentbehrlicher Leistungsangebote erfolgen. Bei solchen Entscheidungen sind Risiken und Nutzen eines solchen Vorgehens sorgfältig gegeneinander abzuwägen. 

Mein dritter Punkt betrifft die Schulen. Die Offenhaltung der Schulen ist von großer Bedeutung für das psychische und soziale Wohlergehen der Kinder und für ihren Schulerfolg. Schulen sollten als Letztes geschlossen und als Erstes wieder geöffnet werden. 

Wegen der leichteren Übertragbarkeit von Omikron sind unsere Empfehlungen für das Bildungswesen weiterhin eminent wichtig: 

  • Für Belüftung sorgen und auf Handhygiene und das Tragen geeigneter Gesichtsmasken achten. 
  • Lehrer und anderes schulisches Personal zu vorrangigen Gruppen für Erst- und Auffrischungsimpfungen gegen COVID-19 machen. 
  • Angebot einer Impfung gegen COVID-19 an schutzbedürftige Kinder sowie Kinder, die in Kontakt mit besonders gefährdeten Erwachsenen kommen, sofern im jeweiligen Land verfügbar.

Darüber hinaus könnten die Länder eine Überprüfung der Protokolle für Tests, Isolation und Quarantäne für Kontaktpersonen im Klassenzimmer erwägen, um eine Beeinträchtigung des Schulbetriebs zu minimieren, und diese Risiken so weit wie möglich durch gute Belüftung und das Tragen von Masken reduzieren.

In nächster Zeit werden die Infiziertenzahlen in vielen Ländern so hoch sein, dass die Schulen wegen Personalmangels möglicherweise nicht mehr in der Lage sind, den gesamten Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten. In diesem Winter empfiehlt es sich, neben dem Präsenzunterricht auch Vorkehrungen für Online-Unterricht zu treffen, damit die Kinder weiter unterrichtet werden können, auch wenn sie nicht in die Schule gehen können. 

Fazit: die 5+1 Maßnahmen zur Stabilisierung der Pandemie, die unsere Reaktion in den vergangenen Monaten geprägt haben, sind auch für die Bekämpfung von Delta oder Omikron so wichtig wie eh und je. Unser Credo lautet weiterhin: 1. Impfungen. 2. Dritte Dosen bzw. Auffrischungsimpfungen. 3. Verstärktes Tragen von Masken. 4. Belüftung geschlossener Räume. 5. Anwendung neuer klinischer Protokolle. 

Außerdem muss es unser übergeordneter Anspruch sein, Impfstoffe zu spenden und Solidarität zu zeigen, und zwar altersgruppen- und bereichsübergreifend sowie über Grenzen und politische Gräben hinweg. 

Ich danke Ihnen.