10. November 2022
Liebe Iveta, lieber Reinhard, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!
Es wäre eine glatte Untertreibung zu sagen, dass seit unserem letzten direkten Zusammentreffen 2019 in Marseille viel passiert ist. Ich möchte zunächst einmal Sie alle begrüßen, die Sie hier versammelt sind: die vielen alten Freunde, die vielen jungen Nachwuchskräfte, die Beschäftigten im öffentlichen Gesundheitswesen und die Einsatzkräfte an vorderster Linie, die in den vergangenen zweieinhalb Jahren so enorme persönliche Opfer gebracht haben.
Die COVID-19-Pandemie war ein Wendepunkt in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit auf unserem Kontinent. Sie hat Regierungen und Gesundheitsbehörden zu schwierigen Entscheidungen und kühnen Maßnahmen gezwungen, um Menschenleben zu retten und die Bedürftigen zu schützen.
Wir haben schnell und entschlossen gehandelt. Und dank Ihres Mutes und Ihrer Umsicht (gerade Sie, Herr Prof. Lauterbach) und Ihrer unerschrockenen Entschlossenheit, sich an wissenschaftliche Fakten zu halten, haben wir Menschenleben gerettet.
Dennoch sind tragischerweise weltweit über sechseinhalb Millionen Menschen gestorben, davon allein 2,1 Millionen in unserer Region. Die Welleneffekte der Pandemie werden jahrzehntelang spürbar sein. Vergegenwärtigen Sie sich: Wir sind in der Europäischen Region mit einer beispiellosen psychischen Gesundheitskrise konfrontiert, von der mindestens ein Sechstel der Menschen betroffen sind und die die Regierungen der EU-Staaten mindestens 600 Mrd. € pro Jahr kostet.
Vergangene Woche haben wir in Griechenland jungen Menschen zugehört, die über ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Gesundheitsproblemen berichteten, die durch die Pandemie und ihre Folgen noch verschärft wurden. Um auf diese und andere Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit zu reagieren, nicht zuletzt Long COVID, bedarf es konzertierter Aktionen von der höchsten politischen Ebene bis zur Basis der Gesellschaft.
Und dennoch ist die Stärkung unserer Gesundheitssysteme als Reaktion auf die Pandemie nicht die einzige Herausforderung, der wir gegenüberstehen.
Ein nun seit neun Monaten wütender verheerender Krieg bringt weiter unermessliches Leid über die Ukraine und ganz Europa. Bisher wurden von der WHO über 660 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitspersonal bestätigt. Dieser Krieg macht den kommenden Winter zu einem der schwierigsten in jüngerer Zeit für uns alle.
In den kommenden Tagen werde ich zum vierten Mal an die Frontlinie in die Ukraine reisen, um den Menschen und dem Gesundheitspersonal angesichts des bevorstehenden harten Winters beizustehen und um mich aktiv für die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen in den wieder befreiten Gebieten einzusetzen.
In allen Teilen der Europäischen Region müssen aufgrund der Krise der Energieversorgung und der Lebenshaltungskosten Tausende Familien zwischen Bezahlen der Energierechnung und anderen Notwendigkeiten wählen – zwischen Heizen und Gesundheitsversorgung.
Verschärft wird diese Energiekrise durch eine globale Klimakrise, die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und den Gesundheitsschutz hat und unverzügliches Handeln erfordert.
Zeitgleich mit unserer Konferenz hier in Berlin, auf der wir über die Zukunft der Gesundheitssysteme sprechen, beraten führende Politiker aus aller Welt darüber, wie wir unseren Planeten für unsere Kinder und Enkel retten können.
All diese Herausforderungen sind eng miteinander verflochten.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!
Auch wenn ich weiß, dass das vielleicht allzu alarmistisch klingt: Wir müssen akzeptieren, dass wir in einem permanenten Krisenmodus leben, unter Bedingungen, die die gesundheitlichen Zugewinne zu untergraben drohen, die durch die mühselige Arbeit vieler in diesem Saal Anwesender und ihrer Vorgänger erreicht wurden.
Wenn wir uns wirklich erholen und wieder zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden unserer Bürger zurückkehren wollen, müssen wir weg vom „Weiter so“ und hin zu einem Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik: zu einem zweigleisigen Ansatz.
In einer Welt ständig zunehmender Gesundheitskrisen, zu einer Zeit wirtschaftlicher und finanzieller Turbulenzen müssen wir dieses neue Paradigma akzeptieren und umsetzen.
Dies bedeutet einerseits, dass wir erheblich in die Bereitschaftsplanung für zunehmende und sich oftmals überschneidende Notlagen investieren müssen. Hier stellt unsere Arbeit zur Einrichtung eines gesamteuropäischen Netzwerks für Krankheitsbekämpfung einen wesentlichen Fortschritt dar.
Andererseits müssen wir unsere Anstrengungen in den Bereichen Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung sowie zur Stärkung der alltäglichen gesundheitlichen Grundversorgung forcieren.
Bei der WHO arbeiten wir energisch auf diesen zweigleisigen Ansatz hin und haben konkrete Maßnahmen ergriffen.
So haben wir erst gestern in Berlin eine Sitzung des Fachlichen Beirats für Innovationen im Bereich der nichtübertragbaren Krankheiten abgehalten und eine Bestandsaufnahme der vielversprechendsten Entwicklungen bei der Bekämpfung und Zurückdrängung nichtübertragbarer Krankheiten in Angriff genommen.
Im nächsten Jahr werden wir in Kasachstan eine globale Konferenz über primäre Gesundheitsversorgung ausrichten; sie findet anlässlich des 45. Jahrestages der Unterzeichnung der Erklärung von Alma-Ata statt, mit der sich Regierungen fest zu dem Ziel bekannten, allen Menschen überall auf der Welt das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit zu ermöglichen.
Ich habe erfreut festgestellt, dass die Berliner Erklärung, die von WHO/Europa nachdrücklich unterstützt wird, energische Maßnahmen zur Verwirklichung dieses zweigleisigen Ansatzes beinhaltet.
Erstens wird darin anerkannt, dass die Gesundheitssysteme belastbar und widerstandsfähig sein müssen, um auf Notlagen und die gleichzeitige Aufrechterhaltung der gesundheitlichen Grundversorgung vorbereitet zu sein.
Zweitens enthält die Erklärung den Vorsatz, über das Gesundheitswesen hinaus aktiv zu werden und mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kräften zusammenzuarbeiten, um die Gesundheitssysteme zu stärken und die gesundheitliche Situation der Menschen zu verbessern.
Die Paneuropäische Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung ist zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt, und ich muss dem früheren Präsidenten der European Public Health Association, meinem lieben Freund und geschätzten Kollegen Prof. Martin McKee, dafür danken, dass er über die wissenschaftliche Evidenzbasis gewacht hat, die in den Abschlussbericht der Kommission eingeflossen ist.
Diese Arbeit wird bei unseren Vorbereitungen auf das Hochrangige Forum über Gesundheit in der Ökonomie des Wohlergehens fortgeführt, das am 1. und 2. März nächsten Jahres stattfindet.
Drittens werden in der Berliner Erklärung die Schlüsselrolle von Wissenschaft und Innovation im Bereich der öffentlichen Gesundheit und die Notwendigkeit höherer und sinnvollerer Investitionen in Forschung und Entwicklung anerkannt.
Gerade an diesem letzten Punkt kommt das Personal des öffentlichen Gesundheitswesens ins Spiel.
Vor der Pandemie hatten es die öffentlichen Gesundheitsdienste schwer, ihre Arbeit sichtbar zu machen. Doch da ihr Profil nun geschärft ist, denken Gesundheitssysteme und Regierungen verstärkt darüber nach, wie sie im öffentlichen Gesundheitswesen Personal anwerben, binden und fördern können.
Wenn ich wie heute Sie alle hier versammelt sehe, fest entschlossen, etwas zu bewirken, dann erfüllt mich das mit Hoffnung und Zuversicht, dass dem öffentlichen Gesundheitswesen in der Europäischen Region eine gute Zukunft bevorsteht.
Trotzdem müssen wir auch anerkennen, dass es an der Zeit ist, unsere Führungskompetenz zu schärfen und in die Führungskräfte der Zukunft zu investieren. Mit diesem Ziel im Visier führen WHO/Europa und das Istituto Superiore di Sanita gerade in Italien – zum ersten Mal – ein Programm zur Förderung der Führungskompetenz im öffentlichen Gesundheitswesen durch, das für Fachkräfte wie Sie bestimmt ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!
Das Europäische Arbeitsprogramm, das das Handeln von WHO/Europa bis 2025 prägt, verfolgt zwei übergeordnete Ziele:
Unterstützung und Befähigung der Gesundheitspolitik – der Grund, aus dem ich heute hier vor Ihnen stehe, um Ihnen zu versichern, dass wir fest entschlossen sind, uns auf der höchsten Ebene für Investitionen in die öffentliche Gesundheit einzusetzen.
Und das Gebot, niemanden zurückzulassen, denn – nun komme ich wieder zu meinem Ausgangspunkt zurück – COVID-19 hat für alle Folgen gehabt, aber insbesondere für die Schwächsten und Schutzbedürftigsten unter uns. Als Verantwortliche im öffentlichen Gesundheitswesen haben wir die moralische Pflicht, auf die Beseitigung gesundheitlicher Benachteiligungen und die Förderung eines chancengleichen Zugangs zu Gesundheit für alle hinzuarbeiten.
Als letzten Gedanken gestatten Sie mir, Rudolf Virchow zu zitieren, der vor vielen Jahrzehnten hier in Berlin gewirkt hat und der die feste Überzeugung hatte:
„Die Ärzte sind die natürlichen Anwälte der Armen und die sociale Frage fällt zu einem erheblichen Theil in ihre Jurisdiction.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Tagung der European Public Health Conference verkörpert die Vision von Gesundheit für alle durch die Kraft partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Denn es liegt eine große Kraft in der Zusammenarbeit, für die wir stehen.
Auch wenn die vor uns liegenden Herausforderungen beträchtlich sind, so stellen wir uns ihnen doch gemeinsam und werden sie durch enge Zusammenarbeit überwinden.
Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz und Ihre Entschlossenheit.