„Als es am 24. Februar zu den ersten Explosionen kam, habe ich die Zeichentrickfilme im Fernsehen lauter gedreht, damit die Kinder den Lärm nicht hören. Ich war stark im Zweifel, ob ich bleiben oder fliehen sollte, aber dann wurde mir schnell klar, dass ich als medizinisch-chirurgische Krankenschwester hier gebraucht wurde. Deshalb bin ich geblieben.“
Tetiana Freishyn arbeitet seit 17 Jahren als Krankenschwester, zum überwiegenden Teil in der Chirurgie. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist sie auf der Station für Traumaversorgung und Orthopädie am städtischen Krankenhaus in Ivano-Frankivsk, im Westen des Landes, tätig.
Am 12. Mai begeht WHO/Europa den Internationalen Tag der Pflege mit einem Appell, die Sicherheit von Pflegekräften wie Tetiana und ihren Kolleginnen und Kollegen überall zu gewährleisten. Mit Stand vom 8. Mai hatte die WHO 200 Angriffe auf das Gesundheitswesen in der Ukraine seit Beginn des Krieges bestätigt, die bisher zu 75 Toten und 54 Verletzten geführt haben. Zu den Angriffen auf das Gesundheitswesen zählen Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, Transporte, Personal, Patienten sowie Lagerbestände und -einrichtungen. Wenn Menschen an der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gehindert werden, weil die Einrichtungen zerstört sind, oder aus Angst, zur Zielscheibe zu werden, dann verlieren sie die Hoffnung. Die Auswirkungen des Krieges auf die psychische Gesundheit dürfen nicht unterschätzt werden, da sie Zivilbevölkerung und Gesundheitspersonal gleichermaßen betreffen.
Tetiana erzählt von schwierigen Arbeitsbedingungen, auch wenn ihre Station in Ivano-Frankivsk bisher noch verschont geblieben ist.
„Die psychologische Belastung ist enorm, weil das Arbeitsvolumen gestiegen ist, und gleichzeitig mache ich mir Sorgen um die Sicherheit meiner Kinder und meines Mannes“, erklärt sie.
Eine Botschaft des Friedens am Internationalen Tag der Pflege
Wer inmitten eines Konflikts vor der Wahl steht, zu bleiben oder zu gehen, hat es oft schwer, die Motivation aufrechtzuerhalten. Doch als Pflegekraft mit äußerst gefragten Fähigkeiten kann sich Tetiana ausreichend motivieren.
„Meine Tätigkeit als Pflegekraft ist mein Leben; dafür stehe ich jeden Tag auf, so bin ich veranlagt“, sagt sie und fügt hinzu, dass sie zum Internationalen Tag der Pflege eine Botschaft des Friedens an alle Pflegekräfte hat.
„Niemand sollte als Krankenschwester während eines Konflikts arbeiten müssen, und ich wünsche allen Pflegekräften, dass sie mit Freude zur Arbeit gehen können. Die Gesundheitsberufe sind ein friedlicher Berufsstand, und ich hoffe, dass wir alle bald wieder friedlich unserer Arbeit nachgehen können. Denn im Augenblick riskieren wir auf der Arbeit unser Leben.“
Tetiana erzählt, dass die Angriffe über Krankenhäuser hinausgehen.
„Wir haben von Angriffen auf Krankenwagen gehört, und es sind schon ziemlich viele Gesundheitsfachkräfte bei der Ausübung ihres Berufs ums Leben gekommen“, sagt sie. „Pflegekräfte sollten nicht sterben, weil sie ihre medizinische Pflicht tun.“
„Wir müssen unsere Fähigkeiten schnell erweitern“
Die Realitäten des Krieges haben für Tetiana und ihre Kollegen eine Reihe neuer beruflicher Herausforderungen gebracht.
„Wegen der ständigen Luftalarme weiß man nie, wann die Arbeit unterbrochen wird. Wegen der andauernden Gewalt haben wir mit vielen offenen Wunden zu tun. Das ist doch ganz anders als bei den üblichen Beinbrüchen; deshalb müssen wir unsere Fähigkeiten schnell erweitern.“
Eine weitere Folge des Konflikts ist die hohe Zahl der Binnenvertriebenen.
„Manche von ihnen sind gut ausgebildete Gesundheitsfachkräfte, die jetzt mit uns arbeiten. Wir wissen ihre Hilfe zu schätzen, und die Einbindung neuer Kollegen und das Funktionieren als Team gehören zu den Dingen, an die wir uns anpassen müssen“, erklärt Tetiana.
Wie Millionen von Pflegekräften in aller Welt versorgt Tetiana hilfebedürftige Menschen mit lebensrettenden Maßnahmen. Die Fähigkeit von Pflegekräften, ihren Beruf auszuüben und ihre Fähigkeiten anzuwenden, ist mehr als nur eine Chance, den Zugang zu menschenwürdiger Arbeit zu bewahren. Denn weltweit sind die überwiegende Mehrheit der Pflegekräfte Frauen, und Investitionen in die Pflegeberufe sind auch Investitionen in Frauen und ihre Rolle in der globalen Gesundheitspolitik.