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Wachsende Ungleichheiten und schwindendes Vertrauen sind untrennbar miteinander verbunden und haben erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit – Fazit eines neuen Berichts von WHO/Europa

12 July 2023
Media release
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Ein von WHO/Europa heute veröffentlichter Bericht verdeutlicht auf erschütternde Weise, dass in der gesamten Europäischen Region der WHO ein deutlicher Vertrauensschwund zwischen den Menschen und den Institutionen – und namentlich den Regierungen – festzustellen ist, der die gesamteuropäische Solidarität gefährdet. 

In dem Bericht „Umgestaltung im Bereich der gesundheitlichen und sozialen Chancengleichheit: Förderung eines sozial gerechten und inklusiven Wachstums zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit“ wird die untrennbare Verknüpfung zwischen der zunehmenden gesundheitlichen und sozialen Kluft, der ständig wachsenden Zahl von Menschen, die in unsicheren Verhältnissen leben, und dem damit verbundenen beträchtlichen Vertrauensverlust verdeutlicht.

Aus dieser bahnbrechenden Analyse, die vom Europäischen Büro der WHO für Investitionen in Gesundheit und Entwicklung in Absprache mit wichtigen Organisationen der Vereinten Nationen und anderen globalen Organisationen [1] koordiniert wurde, geht deutlich hervor, dass sich die Menschen zunehmend von ihren Regierungen und anderen öffentlichen Akteuren und Institutionen abwenden, wenn sie den Nutzen staatlicher Politik, einschließlich der Gesundheitspolitik, nicht mehr spüren, aber feststellen, dass andere davon profitieren. Der Bericht beinhaltet auch eine Reihe von Maßnahmen und Lösungsansätzen, um dieser Herausforderung zu begegnen.

Wir sind es den fast eine Milliarde Menschen, die in den 53 Mitgliedstaaten der WHO in Europa und Zentralasien leben, schuldig, so zu investieren, dass wir ihnen heute und in Zukunft ein besseres Leben und eine gesündere Gesellschaft ermöglichen“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. 

„Alle Regierungen und politischen Entscheidungsträger sollten die düsteren Befunde des Berichts zur Kenntnis nehmen und konkrete politische Lösungskonzepte finden, die allen zugute kommen, auch und gerade den am meisten vernachlässigten und gefährdeten Menschen. Die Stärkung des Vertrauens und der Transparenz sind von entscheidender Bedeutung, wenn wir konsequent die schmerzlichen Lehren aus der COVID-19-Pandemie und anderen Notlagen berücksichtigen und uns besser auf die Zukunft vorbereiten wollen.“

Zu den wesentlichen Ergebnissen des Berichts gehören:  
  • Vertrauensverlust ist durch unsichere Lebensverhältnisse bedingt: Bei einkommensschwachen Menschen ist das Vertrauen in andere um 40 % geringer als bei Menschen mit hohem Einkommen. Gleichzeitig ist das Vertrauen in den Staat unter Arbeitslosen seit Beginn der Pandemie deutlich gesunken [2].
  • Verschärfung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kluft hat schwerwiegende Folgen: In den Mitgliedstaaten, die am wenigsten für die Gesundheitssysteme und die menschliche Entwicklung ausgeben, war die Sterblichkeitsrate während der Pandemie höher, was schätzungsweise 600 000 vermeidbare Todesfälle in der Europäischen Region zur Folge hatte [3].
  • Fehlende soziale Absicherung für die Schutzbedürftigsten bewirkt zusätzliche Ausweitung der Kluft: Menschen, die aufgrund von Rasse, Bildungsniveau oder Geschlecht diskriminiert werden, geraten weiter ins Hintertreffen; dies gilt vor allem für junge Menschen und Frauen, da niedrige Löhne und fehlende Arbeit zu wirtschaftlicher Ausgrenzung, schlechter Gesundheit und sinkendem Vertrauen führen.
  • Digitale Technologien und umweltverträgliche Übergänge müssen gerecht umgesetzt werden: Investitionen in digitale Technologien und Umweltverträglichkeit können zur Beseitigung gesundheitlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten beitragen, etwa durch Schaffung von Arbeitsplätzen, Programme zur Förderung von Digitalkompetenz für Frauen, junge Menschen und gering qualifizierte Arbeitnehmer sowie die Erneuerung örtlicher Gemeinschaften.
„Wir stehen an einem kritischen Wendepunkt“, warnte Christine Brown, Leiterin des Europäischen Büros der WHO für Investitionen in Gesundheit und Entwicklung. „Unsere neue Analyse bestätigt erneut, dass eine Wirtschaftspolitik, die nur auf Profit ausgerichtet ist, nicht funktioniert; sie unterstreicht die Bedeutung von Gesundheit als Nutznießer und Motor von Ökonomien des Wohlergehens. In diesem Bericht wird betont, dass Gesundheit, Wirtschaft und das soziale Gefüge unseres täglichen Lebens miteinander verflochten sind. Wir erleben, dass Solidarität und Vertrauen beeinträchtigt werden, wenn der Nutzen staatlicher Politik nicht zu einem besseren Leben und besseren Chancen für alle in der Gesellschaft führt. Die Folge ist ein Zusammenbruch der Beziehungsdynamik zwischen Bürgern, Regierungen und Institutionen, die das Herzstück der sozialen Stabilität und des Wohlergehens in unserer Region bildet.“

Der neue Bericht fordert qualitativ hochwertige, rechenschaftspflichtige und transparente staatliche Politik und Dienstleistungen – etwa dass soziale Unterstützung für diejenigen bereitgestellt wird, die sie am dringendsten benötigen –, um den sozialen Zusammenhalt, die Widerstandsfähigkeit und das Vertrauen aufzubauen und zu stärken und die sich vergrößernde gesundheitliche Kluft zu verringern.

In dem Bericht werden fünf konkrete Maßnahmen gefordert:
  1. Investitionen in junge Menschen, um maximale Zugewinne in Bezug auf Gesundheit, Wohlbefinden, eine florierende Wirtschaft und auf Vertrauen gestützte Gesellschaften zu erreichen. Dazu gehört auch eine vorrangige Behandlung der psychischen Gesundheit, insbesondere in benachteiligten Bevölkerungsgruppen. 
  2. Entwicklung bedarfsgerechter und integrierter Sozial- und Gesundheitssysteme, um eine Vielzahl von Unsicherheiten zu bewältigen und die Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Erschütterungen zu stärken. Beispiel: Einbeziehung des Sozialschutzes in die Arbeit kommunaler Wohnungs-, Gesundheits-, Bildungs- und Beschäftigungsbehörden. Dies dient dem wirksamen Schutz junger Menschen, dem sozialen Zusammenhalt und der Stärkung des Vertrauens in den Staat. 
  3. Gewährleistung, dass die Stimmen der Bürger, und insbesondere der jungen Menschen, gehört und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, damit alle Dienststellen und ihre Konzepte ein höheres Maß an Vertrauen in die Institutionen schaffen können. 
  4. Förderung von Wohlbefinden durch einen chancengleichen digitalen und umweltverträglichen wirtschaftlichen Wiederaufbau als Hauptmotor für den Aufschwung in der Europäischen Region, in der Erkenntnis, dass die Menschen Fähigkeiten und Ressourcen benötigen, um an einer digitalen Welt teilhaben und die Vorteile umweltfreundlicher Lösungen nutzen zu können, damit wirklich niemand zurückgelassen wird.
  5. Gewährleistung von Mechanismen zur chancengerechten Verteilung von Ressourcen im Gesundheits- und Pflegewesen, um den Menschen Entfaltung und ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Der Zugang sollte anstatt zielgerichtet lieber universell und über das gesamte sozioökonomische Gefälle hinweg bedarfsgerecht erfolgen, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse der am stärksten Benachteiligten erfüllt werden. 
„Wenn Regierungen nicht in die Schaffung von Entfaltungsmöglichkeiten für alle Menschen investieren, werden Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, stark beeinträchtigt. Diese Lösungsansätze zeigen, wie öffentliche Investitionen die Solidarität in Europa wiederherstellen können“, erklärte Dr. Ben Barr, Professor für angewandte Gesundheitswissenschaften an der Universität Liverpool. Dr. Barr leitet auch das WHO-Kooperationszentrum für Grundsatzforschung über Determinanten gesundheitlicher Chancengleichheit, das die Analyse mit Unterstützung des Wissenschaftlichen Beirates der WHO für gesundheitliche Chancengleichheit durchgeführt hat. 

„Die Lösungen unterstreichen, wie der digitale und umweltverträgliche Wandel Gesundheit und Wohlbefinden fördern kann; und sie verdeutlichen, wie wichtig es ist, verschiedenen Gruppen, die von zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Ungewissheiten betroffen sind, zuzuhören und mit ihnen zusammenzuarbeiten, um Vertrauen, Widerstandsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt aufzubauen.“