Länder in der Europäischen Region der WHO bekennen sich zur Anwendung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse bei der Entwicklung von gesundheitsbezogenen Handlungskonzepten, Angeboten und entsprechender Kommunikation
Tel Aviv, 13. September 2022
Am heutigen Tag einigten sich Gesundheitsminister, die zusammen über 900 Mio. Menschen in der Europäischen Region der WHO vertreten, darauf, verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse bei der erfolgreichen Entwicklung, Umsetzung und Evaluation gesundheitsbezogener Handlungskonzepte, Angebote und entsprechender Kommunikation zu berücksichtigen.
Der Handlungsrahmen für die Berücksichtigung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse wurde im Rahmen der 72. Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa – der Jahrestagung des leitenden Organs der Europäischen Region der WHO – angenommen, die derzeit in Tel Aviv (Israel) abgehalten wird.
Die Förderung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse ist eine Flaggschiff-Initiative des Europäischen Arbeitsprogramms der WHO. Im Jahr 2020 wurde zudem ein Referat für verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse bei WHO/Europa eingerichtet, um die Anstrengungen in diesem Bereich zu koordinieren und den Ländern fachliche Leitlinien an die Hand zu geben.
„Wie wir die Gesundheit verbessern, geht weit über die Bereitstellung einer besseren medizinischen Versorgung hinaus. Es ist schon lange bekannt, dass strukturelle, individuelle und kulturelle Faktoren – wie Bequemlichkeit, klare Botschaften, finanzielle Anreize, soziale Normen und Unterstützung, Religion und Familie – starken Einfluss auf die Wirksamkeit von Handlungskonzepten zur Verbesserung der Gesundheit der Menschen haben. Bisher wurden solche Faktoren jedoch nie ausgiebig untersucht oder systematisch angewandt“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.
„Der Handlungsrahmen für die Berücksichtigung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse, zu dessen Umsetzung sich die Länder verpflichtet haben, ist der erste seiner Art und wird dafür sorgen, dass die Europäische Region in diesem innovativen und vielversprechenden Gebiet führend bleibt. Er wird gewährleisten, dass diese wertvollen, evidenzgeleiteten Erkenntnisse die Aufmerksamkeit und die Investitionen erhalten, die sie verdienen, und sie in gesundheitspolitische Handlungskonzepte, Angebote und andere Interventionen einfließen, um den Menschen dabei zu helfen, ein glücklicheres und gesünderes Leben zu führen“, fügte er hinzu.
Der durch einen breit angelegten einjährigen Konsultationsprozess mit auf nationaler Ebene nominierten Ansprechpersonen und anderen Experten ausgearbeitete Handlungsrahmen enthält fünf strategische Verpflichtungen, bei denen vonseiten der Länder Handlungsbedarf besteht. Sie sollen über einen Zeitraum von fünf Jahren (zwischen 2022 und 2027) über die auf nationaler Ebene erzielten Fortschritte Bericht erstatten.
Diese Verpflichtungen umfassen die Einbeziehung maßgeblicher Akteure, die Erforschung von Barrieren und Triebkräften, denen die Menschen im Hinblick auf das Führen eines gesunden Lebens begegnen, die Berücksichtigung dieser Art von Erkenntnissen bei der Gestaltung gesundheitsbezogener Handlungskonzepte, Angebote und entsprechender Kommunikation, die Investition in nachhaltige Kapazitäten im Bereich verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse und die Entwicklung nationaler Pläne für die Anwendung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse.
Es gibt bereits viele nachweisliche Beispiele für die Anwendung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse.
- Frankreich etwa zog Lebensmittelhersteller und -händler, Wissenschaftler und Verbraucher zu Rate, um wirksame Kennzeichnungen auf der Vorderseite von Verpackungen mit eindeutigen Nährwertangaben zu gestalten und so das Kaufverhalten der Verbraucher positiv zu beeinflussen. Im Jahr 2017 wurde daraufhin der sogenannte Nutri-Score eingeführt.
- 2016 kündigte die Regierung des Vereinigten Königreichs an, dass im Jahr 2018 eine Abgabe auf Erfrischungsgetränke in Kraft treten werde. Deren Gestaltung und Umsetzung wurde durch eine öffentliche Konsultation im Jahr 2016 beeinflusst. In Anerkennung der Tatsache, dass die Änderung des individuellen Verhaltens eine Herausforderung darstellt, zielt die Steuerabgabe auf das Verhalten der Hersteller ab, um diese zur Reformulierung ihrer Produkte anzuregen, denn die Abgabe steigt mit dem Zuckergehalt in Erfrischungsgetränken. Infolgedessen hat die Branche den Zuckergehalt in ihren Produkten erheblich reduziert, was dazu führte, dass die Menge an pro Kopf pro Tag durch Erfrischungsgetränke verkauftem Zucker um 30% zurückging.
- In der Republik Moldau wurde festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Tuberkulosepatienten sich an ihren Behandlungsplan halten, größer war, wenn dieser für sie bequemer gestaltet wurde und Gesundheitsfachkräfte die Einhaltung des Plans eher über eine Videoverbindung beobachteten als bei einem persönlichen Termin. Im Durchschnitt verpassten Tuberkulosepatienten mit diesem neuen Ansatz nur 1,29 Behandlungstage über einen Zeitraum von zwei Wochen, während es zuvor 5,24 gewesen waren.
- Ärzte im Vereinigten Königreich, die zuvor als Hochverordner von Antibiotika identifiziert worden waren, reduzierten über einen Zeitraum von sechs Monaten ihre Verschreibungen um 3,3%, nachdem sie ein Schreiben vom Obersten Gesundheitsbeamten des Landes erhalten hatten, in dem darauf verwiesen wurde, dass sie mehr Antibiotika verschrieben als die meisten anderen medizinischen Praxen in ihrem Ortsgebiet.
Warum sollten verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse genutzt werden?
Die Forschung deutet darauf hin, dass einzelne Verhaltensweisen und soziale Umstände zusammen genommen 60% der für die Gesundheit der Menschen ausschlaggebenden Faktoren ausmachen.1.
Die Arbeit im Bereich verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse bedeutet, die strukturellen, individuellen und kulturellen Faktoren zu erforschen und zu verstehen, die das Gesundheitsverhalten beeinflussen, und diese Erkenntnisse dazu zu nutzen, um die Resultate von gesundheitsbezogenen Handlungskonzepten, Angeboten und entsprechender Kommunikation zu verbessern.
Sie kann genutzt werden, um Probleme zu formulieren, Ursachen zu erforschen, Barrieren und Triebkräfte für das Gesundheitsverhalten zu verstehen, kann für die Programmplanung und -umsetzung herangezogen werden und um zu erproben und zu evaluieren, welche Interventionen erfolgreich sind. Diese evidenzbasierte Disziplin baut auf vorhandenen Arbeiten und Methoden aus unterschiedlichen Bereichen auf, u. a. der Psychologie, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie, den Politikwissenschaften und den Kulturwissenschaften.

