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In nur zehn Tagen haben wir den achten Monat eines gnadenlosen Krieges in der Ukraine hinter uns. Doch in dieser Woche haben die Bombenangriffe auf Kiew, Dnipro und andere Städte im ganzen Land die Aufmerksamkeit der globalen Gemeinschaft wieder
auf das Überleben der Zivilbevölkerung in der Ukraine gelenkt – und auf das Überleben des Gesundheitssystems selbst.
Die Eskalation der humanitären Notlage erfordert eine Eskalation der humanitären Hilfe.
Lassen Sie es mich in aller Deutlichkeit sagen: Die WHO wird hier präsent bleiben – und das Gesundheitsministerium unter der Leitung von Gesundheitsminister Dr. Viktor Liashko, aber auch unsere mehr als 150 Gesundheitspartner vor Ort unterstützen.
Die unmittelbare Priorität besteht darin, dringend auf die Schäden zu reagieren, die durch die letzten Angriffe verursacht wurden, durch die sich die Gesamtzahl der von der WHO bestätigten Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen seit Beginn des Krieges im Februar auf 620 erhöht hat. Wir müssen unsere Unterstützung für den Wiederaufbauprozess verstärken.
Parallel dazu bemühen wir uns anhaltend um eine Verbesserung der Kapazitäten – und der Moral – der erschöpften Gesundheits- und Pflegefachkräfte. Bisher hat die WHO zur Schulung von etwa 11 000 Gesundheitsfachkräften
in einer Reihe von Bereichen wie Traumachirurgie, Massenanfall von Verletzten, Chemikalienbelastung, Epidemiologie und Labordiagnostik beigetragen.
Dies ergänzt die anhaltenden Bemühungen zur Lieferung von bisher über 1300 Tonnen lebensrettender medizinischer Hilfsgüter, etwa Generatoren für Gesundheitseinrichtungen, Sauerstoffvorräte, Krankenwagen, Chirurgie-Kits, Medikamente
zur Behandlung nichtübertragbarer Krankheiten und Impfstoffe für Routineimpfungen wie auch gegen COVID-19.
Die zweite Priorität ist die Erfüllung der unmittelbaren gesundheitlichen Bedürfnisse der Menschen in den inzwischen wieder zugänglichen Gebieten unter ukrainischer Kontrolle. Wir müssen Wege finden, um auf das
immense körperliche und seelische Leiden zu reagieren, das diese Menschen erlebt haben. Darüber hinaus bitten wir seit Monaten dringend um humanitären Zugang zu besetzten Gebieten wie Mariupol und dem Donbas, damit die WHO und ihre
Partner den dortigen Bedarf ermitteln und entsprechende Unterstützung leisten können.
Die dritte Priorität besteht in der Einschätzung der erheblichen Herausforderungen des kommenden Winters und der Vorbereitung auf diese. Zu viele Menschen in der Ukraine leben unter prekären Bedingungen, ziehen von einem
Ort zum nächsten und wohnen in unzureichenden Unterkünften oder ohne Heizmöglichkeiten. Dies kann zu Erfrierungen, Unterkühlung, Lungenentzündung, Schlaganfällen und Herzinfarkten führen.
Die Zerstörung von Häusern und der mangelnde Zugang zu Brennstoffen oder Strom infolge einer beschädigten Infrastruktur könnte zu einer Frage von Leben und Tod werden, wenn die Menschen ihre Häuser nicht beheizen können.
Nach Angaben der Regierung der Ukraine wurden landesweit seit Beginn des Krieges schon über 800 000 Häuser beschädigt oder zerstört, und Tausende Menschen leben inzwischen in Sammelunterkünften oder beschädigten Gebäuden,
ohne den nötigen Schutz vor der kalten Jahreszeit.
Der bevorstehende harte Winter könnte vor allem für anfällige Gruppen – ältere Menschen, chronisch Kranke und Personen, die auf Angebote für Mütter und Neugeborene angewiesen sind – außerordentlich gefährlich
werden, insbesondere angesichts der aktuell niedrigen Durchimpfung gegen COVID-19 und andere Krankheiten.
Tatsächlich haben wir in den vergangenen Wochen einen steilen Anstieg der Fallzahlen bei COVID-19 verzeichnet, wie auch in anderen Teilen der Europäischen Region der WHO. Wir müssen uns für kommenden Herbst und Winter auf eine stärkere
Belastung durch Atemwegserkrankungen einstellen, zumal die saisonale Influenza gleichzeitig mit SARS-CoV-2 zirkuliert.
Die Herausforderungen durch den Winter und die jüngste Eskalation der Kämpfe könnten die bereits hohe Zahl der Binnenvertriebenen noch um weitere 2 bis 3 Mio. erhöhen und auch eine weitere Massenflucht in die Nachbarländer auslösen.
Dementsprechend wird das Gesundheitswesen in der Ukraine und den Aufnahmeländern der Flüchtlinge noch stärker unter Druck geraten.
Darüber hinaus ist mit einer Verschärfung der psychischen Gesundheitsprobleme zu rechnen. Am Welttag für psychische Gesundheit Anfang der Woche haben wir festgestellt, dass gegenwärtig fast 10 Mio. Menschen einer Bedrohung durch psychische
Störungen wie akuten Stress, Angstzustände, Depressionen, Substanzmissbrauch und posttraumatische Belastungsstörung ausgesetzt sind. Diese Schätzung stand noch vor der Eskalation der Kampfhandlungen in dieser Woche.
Die vierte Priorität, die ich hier hervorheben möchte, ist die so wichtige Fortsetzung der Reformen im ukrainischen Gesundheitswesen – trotz des weiter tobenden Krieges. Vor dem Krieg hatte das Land eine ehrgeizige Gesundheitsreform
auf den Weg gebracht, die auch schon deutlich Früchte getragen hatte.
Doch nach neuesten ökonomischen Analysen der Weltbank könnte der Krieg bis zu 60% der Bevölkerung unter die Armutsgrenze drücken, und nach Einschätzung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen könnte diese Zahl sogar
noch höher ausfallen. Dadurch würde es für die Menschen immer schwieriger, Leistungen der gesundheitlichen Grundversorgung zu bezahlen. Um in den kommenden Monaten und Jahren eine allgemeine Gesundheitsversorgung sicherzustellen, wird
ein Notfallfahrplan benötigt.
Ich möchte hier den Regierungen der Geberländer danken, die unsere Arbeit möglich machen. Bisher beläuft sich das Ersuchen der WHO um Mittel für humanitäre Hilfe in der Ukraine auf durchschnittlich etwa 10 Mio. US-$ pro Monat.
Wir brauchen die Unterstützung der Geber, um stabil zu bleiben und möglicherweise sogar unsere Unterstützung für unsere ukrainischen Partnerorganisationen im Gesundheitsbereich zu erhöhen und den gesundheitlichen Bedürfnissen
der Flüchtlinge in den Nachbarländern gerecht zu werden.
Wir können bei der Beantwortung Ihrer Fragen auf diese und andere Themen eingehen, aber erlauben Sie mir, abschließend nochmals meine eingangs vermittelte Botschaft zu wiederholen: Die WHO strebt eine langfristige Präsenz in der Ukraine
an. Das Land und seine Menschen können auf unsere partnerschaftliche Unterstützung zählen – heute und immer.
Vielen Dank.