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Interview mit WHO-Kooperationspartner Long COVID Europe

15 September 2022
News release
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„Wir sind so dankbar und froh, mit der WHO zusammenzuarbeiten. Es ist gut zu sehen, dass die Menschen bei der WHO die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben, anerkennen, und es scheint, dass sie wirklich ihr Bestes geben, auf verschiedenen Ebenen, um das Problem des Post-COVID-Syndroms, das gemeinhin als Long COVID bekannt ist, anzugehen.“ 

Long COVID Europe ist eine Netzwerk-Organisation, die bisher 21 Patientenverbände umfasst und sich aus rund 200 000 Einzelpersonen aus Mitgliedstaaten in allen Teilen der Europäischen Region zusammensetzt. 

WHO/Europa hat seit dem Sommer 2021 eine laufende Kooperation mit Long COVID Europe. So war das Netzwerk sowohl 2021 an der 71. Tagung des WHO Regionalkomitees für Europa (RC71) beteiligt und als auch in diesem Jahr am RC72. Im Juli 2022 verfassten die beiden Organisationen gemeinsam einen Artikel für The Lancet, in dem sie Gesundheitsdienste in der Region aufforderten, integrierte Versorgungsmodelle zur Behandlung von Long COVID zu nutzen.

Wir sprachen mit Ann Li, die seit ihrer Gründung im Jahr 2021 Vorsitzende von Long COVID Europe ist, um mehr über die Organisation herauszufinden, welche Ziele sie sich gesetzt hat und inwiefern die Partnerschaft mit WHO/Europa wirklich einen Unterschied machen könnte für ihre Arbeit und das Leben der von Long COVID Betroffenen.

Wie und warum wurde Long COVID Europe eingerichtet?

Ende 2020 hat das Vereinigte Königreich eine Reihe von Leitlinien für die Behandlung der langfristigen Folgen von COVID-19 herausgegeben, und kurz danach folgte Frankreich diesem Beispiel und gab eigene Leitlinien heraus. Ich hatte das Gefühl, dass es wirklich wichtig wäre, herauszufinden, was andere Länder in Europa unternehmen, also nahm ich zunächst Kontakt mit der Person auf, die die Initiative Long COVID Deutschland betreut.

In Gesprächen realisierten wir, dass es effizienter wäre, wenn wir uns zusammentun würden, um Größenvorteile zu erzielen, und wenn wir offen dafür wären, einschlägige Ressourcen, entsprechendes Fachwissen und Kontakte untereinander zu teilen. Also begannen wir, auch mit anderen Ländern Kontakt aufzunehmen. Einige hatte nicht die Zeit oder die Ressourcen, um über ihre eigenen Länderinitiativen hinaus zu arbeiten, aber glücklicherweise gab es viele, die dazu bereit waren. Mittlerweile umfasst unser Netzwerk von Patienten betriebene Verbände aus Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Schweden, der Schweiz, Spanien, der Ukraine, Ungarn und dem Vereinigten Königreich, und mehr sind dabei, sich uns anzuschließen. 

Welche Hauptziele verfolgt Long COVID Europe, und was muss passieren, damit diese verwirklicht werden?

Zusammen mit WHO/Europa haben wir drei Ziele entwickelt – die 3 Rs –, in denen wir gemeinsam Regierungen und Behörden auffordern, ihre Aufmerksamkeit auf Long COVID und die von dieser Erkrankung Betroffenen zu richten, und zwar durch mehr:
  • Anerkennung (Recognition) und einen verstärkten Wissensaustausch – sämtliche Dienste werden angemessen ausgestattet und kein Patient wird alleine gelassen oder muss durch ein System navigieren, das nicht darauf vorbereitet oder nicht in der Lage ist, diese stark beeinträchtigende Erkrankung anzuerkennen; 
  • Forschung (Research) und Berichterstattung – durch Datensammlung und Fallmeldung sowie eine gut koordinierte Erforschung unter vollständiger Einbindung von Patienten, was erforderlich ist, um ein besseres Verständnis der Prävalenz, Ursachen und Kosten von Long COVID zu entwickeln; 
  • Rehabilitation – als eine kostenwirksame Intervention und gute Investition in den Wiederaufbau gesunder und produktiver Gesellschaften muss Rehabilitation auch sicher sein, damit Patienten nach der Behandlung nicht kranker werden.
Um diese Ziele zu erreichen, müssen alle Länder in der Europäischen Region anerkennen, dass Long COVID ein ernsthaftes Problem mit schwerwiegenden Folgen darstellt und es ernsthafter Maßnahmen bedarf, um zu verhindern, dass sich die Situation für Betroffene noch weiter verschlechtert – und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre körperliche Gesundheit. Wir hören Geschichten über so viele individuelle Tragödien, von Menschen mit finanziellen Problemen, mit Beziehungsproblemen, Menschen, die ihren Job verlieren oder eine Depression entwickeln. Die Folgen sind schwerwiegend und vielfältig. 

Auf höherer Ebene müssen auch Regierungen realisieren, dass viele Menschen mit Long COVID nicht in der Lage sind, zur Arbeit zurückzukehren – wie die Forschung mittlerweile eindeutig belegt. Das ist ein erhebliches Problem für die Volkswirtschaften in der gesamten Region sowie eine Belastung für die Gesundheitssysteme, die die Betroffenen unterstützen müssen. 

Hatten Sie bei der Einrichtung und bei der Betreuung des Netzwerks irgendwelche Schwierigkeiten? 

Ich denke, die größte Schwierigkeit besteht darin, dass all die Menschen, die an den Länder-Initiativen beteiligt sind, wie ich auch, selbst Long-COVID-Patienten sind. Das heißt, wir alle kämpfen mit Erschöpfung und Krankheit, während wir unser Bestes geben, um unsere Verbände zu unterstützen. Die Arbeit in unseren eigenen separaten Ländern zu leisten, ist anstrengend genug, aber für viele ist es einfach zu viel, darüber hinaus noch die Last der europaweiten Arbeit für unser Netzwerk auf sich zu nehmen. Über die letzten eineinhalb Jahre habe ich viele enthusiastische Menschen getroffen, die bereit sind zu helfen, aber einige von ihnen mussten aufgeben, weil sie einfach zu krank wurden oder, alternativ, sich erholt haben und zur Arbeit zurückkehren mussten und deshalb keine Zeit mehr hatten, freiwillige Arbeit für uns zu leisten. Und natürlich sind wir allein auf Freiwillige angewiesen, da wir keinerlei Finanzmittel erhalten. 

Long COVID Europe ist im Begriff, eine offizielle Partnerschaft mit WHO/Europa einzugehen. Inwiefern wird diese Partnerschaft Ihrem Netzwerk helfen? 

Die WHO ist natürlich für ihre Rolle in der Gesundheitsförderung bei Regierungen, Gesundheitsbehörden und der allgemeinen Öffentlichkeit hoch angesehen. Durch die Ergreifung von Maßnahmen gegen Long COVID und die Partnerschaft mit Long COVID Europe zeigt die Organisation damit nicht nur Engagement bei der Suche nach Lösungen für das Problem, sondern verleiht der Erkrankung und unserer Organisation zudem eine gewisse Bedeutung. Vor Kurzem etwa wurde ich gebeten, im Rahmen eines von der WHO organisierten Webinars in Armenien und Usbekistan über Long COVID zu sprechen. Ohne diese Unterstützung glaube ich nicht, dass wir zu diesem Gespräch über das Thema eingeladen worden wären. Die Kooperation und Partnerschaft tragen wirklich zur Stärkung unseres Namens bei. 

Haben Sie und Ihre Mitglieder im Laufe der Pandemie irgendwelche Veränderungen bei den Zahlen oder dem Schweregrad der Long-COVID-Fälle festgestellt – und erwarten Sie einen weiteren Anstieg im bevorstehenden Herbst und Winter? 

Studien zeigen, dass es, solange COVID-19 existiert, auch Menschen geben wird, die an Long COVID erkranken. Wir haben seit dem Beginn der Pandemie einen erheblichen Anstieg der Zahl der Betroffenen festgestellt, sowohl infolge des Auftretens neuer Fälle als auch bedingt durch eine Vielzahl von Menschen, die sich einfach nicht erholen. Das Auftreten neuer Varianten wie Delta und die angeblich mildere Omikron-Variante hat im Hinblick auf den Anteil der Patienten, die infolge einer Infektion an Long COVID erkranken, scheinbar keinen Unterschied gemacht. Eine Infektion mit COVID-19 und seinen Varianten, egal ob mit einem leichten oder schweren Krankheitsverlauf und unabhängig von Alter oder allgemeinem Gesundheitszustand, kann zu Long COVID führen. Wir haben sogar von Menschen gehört, die nach einer COVID-19-Infektion keine Symptome hatten, aber dann langfristigere Probleme entwickelt haben. 

Leider ist es sehr wahrscheinlich, dass, wenn die Menschen sich in den kälteren Herbst- und Wintermonaten wieder verstärkt in Innenräumen aufhalten, wir wieder mehr COVID-19-Infektionen verzeichnen und viele Menschen infolgedessen Long COVID entwickeln werden. Aus diesem Grund müssen Regierungen und Gesundheitsbehörden jetzt handeln, um die Menschen vor dem Risiko von Long COVID zu warnen und um in die Forschung und Rehabilitation zu investieren, die erforderlich sind, um diese Erkrankung besser zu verstehen und zu behandeln und mit der enormen gesundheitlichen Belastung umzugehen, die von ihr ausgeht.