Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kiew, 17. Mai 2022
Guten Abend, Ukraine.
Gestatten Sie mir, zunächst einmal meine große Wertschätzung und Bewunderung für das Gesundheitspersonal in diesem Land zum Ausdruck zu bringen, das seit Beginn des Krieges solch enormen Mut und Einsatz gezeigt hat. Sie haben das
Unmögliche geschafft: Sie stehen fest auf den Beinen und retten Menschenleben.
Nach aktuellem Stand hat die WHO insgesamt 226 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine bestätigt. Das sind fast drei Angriffe pro Tag seit dem 24. Februar. Dabei sind mindestens 75 Menschen ums Leben gekommen und 59 verletzt worden.
Zwei Drittel aller weltweit von der WHO bestätigten Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in diesem Jahr entfielen auf die Ukraine.
Diese Angriffe lassen sich nicht rechtfertigen, sie sind nie in Ordnung, und sie müssen untersucht werden. Ihre ungestrafte Fortsetzung ist eine Beleidigung für den Einsatzwillen und die Integrität des Gesundheitspersonals in aller Welt.
Gesundheitsfachkräfte sollten niemals ihre Arbeit unter solch gefährlichen Bedingungen erledigen müssen.
Aber genau das tun Pflegekräfte, Ärzte, Krankenwagenfahrer – die medizinischen Teams in der Ukraine. Angesichts unglaublichen Leids und Leidens halten Sie die Gesundheitsversorgung und die Hoffnung am Leben. Ich habe große Achtung
vor Ihrem Mut und möchte Ihnen versichern, dass die WHO hinter Ihnen steht.
Dies ist mein dritter Besuch in der Ukraine in diesem Jahr, und der zweite seit Ende Februar. Ich bin aus drei Gründen gekommen:
Erstens hatte ich das Privileg, einige der Heldinnen und Helden des ukrainischen Gesundheitswesens zu treffen, ihre Geschichten zu hören und von ihren Herausforderungen bei der Erbringung von Gesundheitsleistungen zu erfahren und
zu verstehen, wie die WHO sie weiter unterstützen kann.
Gestern habe ich den Tag in dem Bezirk Chernihiv mit Gesundheitsminister Viktor Liashko verbracht. Dort habe ich mehrere Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen besucht und mit deren Personal und Patienten gesprochen. Es war herzzerreißend
und erhebend zugleich.
Herzzerreißend wegen der ungeheuren Zerstörung im Gesundheitssystem und der verheerenden Folgen für das Leben der Menschen. Und erhebend wegen der Zeugnisse von Widerstandsfähigkeit und Beharrlichkeit.
Ich habe von normalen Bürgerinnen und Bürgern gehört, die Patienten aus unter Beschuss stehenden Krankenhäusern gerettet haben; von Ärzten und Pflegekräften, die aus dem Ruhestand zurückgekehrt sind, um ihre Dienste
kostenlos anzubieten; von Booten, die verwendet wurden, um Medikamente zu den Menschen zu bringen, wenn Straßen nicht mehr passierbar waren; und viele andere individuelle Geschichten von Heldenmut und Aufopferungsbereitschaft.
Zweitens bin ich in dieser Woche hier, um mir in Gesprächen mit Vertretern von nationalen Behörden und Partnerorganisationen aus erster Hand ein Bild davon zu machen, was wir jetzt weiter tun müssen.
Vor uns liegen eine Vielzahl gesundheitlicher Herausforderungen:
- Ein Drittel der Menschen mit chronischen Erkrankungen haben Probleme beim Zugang zu Arzneimitteln.
- Ein Drittel der Tuberkulosefälle sind multiresistent.
- Die Durchimpfung für Polio und Masern liegt weiterhin unterhalb der empfohlenen Marke von 95%.
Durch unsere speziellen Teams arbeitet die WHO zusammen mit den nationalen Behörden und Partnerorganisationen darauf hin, die unmittelbaren und langfristigen gesundheitlichen Bedürfnisse aller Menschen in der Ukraine zu erfüllen –
unabhängig davon, ob sie nach ihrer Flucht wieder zurückgekehrt sind, am Ort geblieben sind oder innerhalb der Landesgrenzen vertrieben wurden.
Nach den Eindrücken aus meinem gestrigen Besuch in Chernihiv muss die psychische Gesundheitsversorgung ausgeweitet werden, um die Bevölkerung wirksam zu erreichen. Nach Schätzungen der WHO entwickeln etwa ein Fünftel aller Menschen
in Konfliktgebieten schwere psychische Gesundheitsprobleme. Über 16 000 Menschen in der Ukraine mit moderaten bis schweren psychischen Erkrankungen sind von Engpässen bei unentbehrlichen Arzneimitteln betroffen. Ich stelle erfreut fest,
dass die Regierung der Ukraine mit der tatkräftigen Unterstützung durch die First Lady die psychische Gesundheit zu einem zentralen politischen Ziel macht.
Nach Aussage der Vereinten Nationen stellt sexuelle Gewalt eine ernste Bedrohung vor allem für Frauen und Mädchen in Konfliktgebieten dar. Deshalb bin ich zutiefst bestürzt angesichts von Berichten über eine Zunahme sexueller Gewalt
und Ausbeutung in der Ukraine, weil dies Menschenleben ruiniert und einfach nicht hingenommen werden darf. Die WHO ist entschlossen, zusammen mit der Regierung und einer Reihe von nichtstaatlichen Organisationen, mit denen ich gerade Gespräche
geführt habe, die gesundheitlichen Bedürfnisse der Überlebenden zu erfüllen und alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch zu verhindern.
Besorgt sind wir auch über die Möglichkeit eines Choleraausbruchs in den besetzten Gebieten, wo die Wasser- und Sanitärversorgung beschädigt oder zerstört wurde. Deshalb bevorraten wir in unserer Schaltzentrale in Dnipro bereits
Cholera-Impfstoffe.
Heute, am 83. Tag des Krieges, beginnen wir die Tragweite für das Gesundheitssystem in der Ukraine besser zu verstehen – und vielleicht noch wichtiger: die langfristigen Folgen, während wir uns auf den langen und beschwerlichen Weg zum
Wiederaufbau machen.
Der dritte Grund für meinen Besuch ist, dass ich die Gesundheit in den Mittelpunkt des Wiederaufbaus in der Ukraine stellen möchte. Herr Ministerpräsident Shmyhal und ich sind übereinstimmend der Meinung, dass Gesundheit
zwar nicht alles ist, dass aber ohne Gesundheit nichts geht.
Auch wenn wir heute noch damit beschäftigt sind, die dringenden gesundheitlichen Bedürfnisse in der Ukraine zu erfüllen, so richten wir doch auch schon den Blick in die Zukunft – und auf die Frage, wie wir der Ukraine dabei behilflich
sein können, ihr Gesundheitssystem beim Wiederaufbau intelligenter, widerstandsfähiger und umweltverträglicher zu gestalten.
So ist für viele Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen in aktiven Konfliktgebieten die Stromversorgung ein ständiges Problem. Die WHO bemüht sich nach Kräften darum, diese Lücke durch Lieferung von Generatoren zu schließen.
Doch langfristig gesehen streben wir zusammen mit dem Gesundheitsministerium einen Umstieg auf erneuerbare Energieträger für den Betrieb des ukrainischen Gesundheitssystems an, die Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit für die Zukunft
gewährleisten.
Und so wie Ihr Gesundheitspersonal heute die Hoffnung in ihrem örtlichen Umfeld symbolisiert, so muss das künftige Gesundheitssystem eine patientenorientierte und wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung sicherstellen – mit bedarfsgerechten
und agilen Angeboten wie mobilen Leistungen in den Bereichen psychische Gesundheit, primäre Gesundheitsversorgung und digitale Gesundheit.
Frieden ist eine Voraussetzung für Gesundheit. Ohne Frieden drohen all unsere Anstrengungen zum Wiederaufbau und zur Reform fehlzuschlagen. Daher möchte ich mich dem Appell des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nach einem „sofortigen
Waffenstillstand und einer Beendigung des russischen Krieges in der Ukraine“ anschließen.
In den letzten Tagen habe ich mich von der positiven Einstellung, dem Einfallsreichtum und der Widerstandsfähigkeit von Ihnen, dem ukrainischen Volk, überzeugen können. Die WHO steht heute, morgen und auf dem Weg in eine frohere und gesündere
Zukunft an Ihrer Seite.
Ich danke Ihnen.