Istanbul, 18. März 2022
Angesichts einer Vielzahl akuter humanitärer Krisen, die durch Konflikte, Naturkatastrophen und den Klimawandel ausgelöst wurden, haben drei Regionalbüros der WHO in dieser Woche Vertreter von Regierungen und Stimmen der Zivilgesellschaft,
einschließlich Flüchtlingen und Migranten, sowie eine Reihe von im Gesundheitsbereich tätigen Partnerorganisationen zu einer hochrangigen Tagung in Istanbul versammelt, um gemeinsam eine neue Zukunftsvision zu entwerfen, die dem Schutz
der Gesundheit und des Wohlbefindens von Flüchtlingen und Migranten wie auch der Bevölkerung der Aufnahmeländer dient und in der sowohl die gegenwärtige Situation als auch künftige Chancen und Herausforderungen berücksichtigt
werden.
Die Veranstaltung wurde vom WHO-Regionalbüro für Europa mit Unterstützung durch die WHO-Regionalbüros für Afrika und den Östlichen Mittelmeerraum organisiert, die insgesamt 122 Länder und Gebiete repräsentieren.
Von der Sahel-Zone über Syrien bis in die Ukraine haben alle drei Regionen der WHO in jüngster Zeit Massenmigration und -vertreibung erlebt, sowohl inner- als auch außerhalb ihrer geografischen Grenzen.
„Trotz der Vielzahl von Faktoren, die das Migrationsgeschehen prägen, ist Migration keineswegs ein neues Phänomen, sondern ein anhaltender Prozess, der unsere Gesellschaften entscheidend bereichert, ein wesentliches Element in unserer
Entwicklung und unseres Fortschritts als menschliche Gemeinschaften“, stellte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, fest. „Zusammen mit den Flüchtlingen und Migranten müssen wir unseren Ansatz beim Gesundheitsschutz
erneuern, um zu verstehen, dass wir alle besser damit fahren, wenn wir alle – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.“
Allein in den vergangenen drei Wochen sind mehr als 3 Mio. Menschen vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. Die WHO und ihre Partner bemühen sich um Erfüllung der dringenden gesundheitlichen Bedürfnisse sowohl innerhalb der Ukraine als auch
in ihren Nachbarländern, in denen die Menschen Zuflucht suchen. Auch wenn die Tagung in dieser Woche schon lange vor Eintritt der Notlage in der Ukraine geplant war, so unterstricht die Situation doch die Aktualität und Dringlichkeit der
Beratungen in Istanbul.
„Was wir gerade in der Ukraine erleben, ist leider in Afrika ein nur allzu vertrautes Bild. Millionen von Afrikanern leben weit weg von ihrer Heimat, weil sie durch Konflikte und andere humanitäre Krisen von dort vertrieben wurden“, sagte
Dr. Matshidiso Moeti, WHO-Regionaldirektorin für Afrika. „Zwar gehen auch viele Flüchtlinge und Migranten nach Europa und in andere Regionen, doch fast 75% der Migranten aus Afrika südlich der Sahara bleiben auf dem Kontinent.
Afrika hat bei der Bewältigung der gesundheitlichen Bedürfnisse von Migranten viele schmerzliche Lektionen gelernt, die ihren Niederschlag in unserem geplanten 5+5-Ansatz finden – 5 vorrangige Maßnahmen, die auf 5 Lehren basieren.“
Fünf zentrale Lehren
- Wir müssen ressortübergreifend vorgehen und die Belange von Flüchtlingen und Migranten einbeziehen.
- Wir müssen Migration als Kapital erkennen, und nicht als Last verkennen.
- Wir brauchen für Migration einen Ansatz , der die gesamte Migrationsroute umfasst.
- Gesundheitssysteme müssen inklusiv und patientenorientiert sein.
- Wir müssen den einheitlichen Gesundheitsansatz – die Verknüpfung der menschlichen Gesundheit mit der Gesundheit von Tieren und unserem Planeten insgesamt – und seine Schnittstellen mit dem Thema Migration erkennen.
- Gewährleistung, dass Migranten und Flüchtlinge von einer allgemeinen Gesundheitsversorgung profitieren.
- Einführung inklusiver Konzepte zur Bewältigung gesundheitlicher Notlagen.
- Förderung sozialer Inklusion und Abbau von Ungleichheiten zwischen Menschen.
- Stärkung der Steuerung und Datenerfassung im Bereich Migration und Gesundheit.
- Unterstützung neuer Partnerschaften und innovativer Arbeitsmethoden.
„Viele Länder haben in den letzten Jahren damit begonnen, einige dieser Elemente umzusetzen, doch heute ist es wichtiger denn je, sämtliche Elemente aufzugreifen und wirklich vom Reden zum Handeln überzugehen“, erklärte
Dr. Ahmed Al-Mandhari, WHO-Regionaldirektor für den östlichen Mittelmeerraum. „Unsere eng verflochtene Welt braucht mehr regionsübergreifende Partnerschaften, um bei der Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten einen Ansatz
verfolgen zu können, der sich auf die gesamte Migrationsroute erstreckt.“
Zum Zeitpunkt der letzten Hochrangigen Tagung über die Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten im Jahr 2015 war die Europäische Region der WHO mit einem plötzlichen und massiven Zustrom von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten
konfrontiert. Viele der Aufnahmeländer waren damals nicht darauf vorbereitet, sodass das Thema Migration zum Gegenstand lebhafter politischer Debatten wurde. Angesichts dieser Situation nahm das WHO-Regionalkomitee für Europa die Strategie
und den Aktionsplan für die Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten in der Europäischen Region der WHO (2016–2022) an.
Im Rahmen dieses Plans wurden Fortschritte bei nahezu allen Parametern erzielt. So machten viele Mitgliedstaaten ihre Gesundheitssysteme inklusiver und leichter zugänglich, erstellten Notfallpläne für große Zahlen von Flüchtlingen
und Migranten und führten eine Bestandsaufnahme der gesundheitlichen Bedürfnisse dieser anfälligen Gruppen durch.
„Trotz dieser Fortschritte herrscht noch Handlungsbedarf, und es ist an der Zeit, die Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten in einem neuen Licht zu betrachten und auf dem Erreichten aufzubauen und dann auf die nächste Ebene zu wechseln,
zu der auch die Anerkennung des wichtigen Beitrags von Migranten zu unseren Gesellschaften gehört“, sagte Dr. Kluge.
Es sind Migranten wie Embalo aus Guinea-Bissau, der jetzt in Italien lebt. Während der COVID-19-Pandemie nähten er und seine Freunde Masken für die Menschen an seinem Aufnahmeort. „Wenn es in meinem Dorf [in Guinea-Bissau] ein Problem
gab, hatte jeder, insbesondere die jungen Menschen, die moralische Pflicht zu helfen und mit anzupacken“, erzählt Embalo. „Jetzt helfe ich den Einwohnern meines Gastlandes.“
„Der 5+5-Rahmen, auf den wir uns geeinigt haben, ebnet uns den Weg, nicht nur in der Europäischen Region, sondern auch weit darüber hinaus“, sagte Dr. Kluge abschließend. „Es steht viel auf dem Spiel, aber ich habe große
Erwartungen an uns alle: ein neuer Denkansatz in Bezug auf Migration, von der Last zur Chance; ein Erfahrungs- und Praxisaustausch; und der Aufbau einer Handlungspartnerschaft zwischen unseren drei Regionen. Wir müssen uns der Humanität
bewusst sein, die uns miteinander verbindet, mit Gesundheit für alle als vorrangiger Aufgabe, die erfüllt werden kann und muss.“
Fakten und Zahlen:
- 2020 lebten in der Türkei mehr Flüchtlinge und Asylbewerber als in irgendeinem anderen Land der Welt (fast 4 Mio.), gefolgt von Jordanien, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen sowie Kolumbien (Die wichtigsten Fakten zur internationalen Migration 2020, S. 11).
- Mit Stand vom 15. März 2022 hatten mehr als 3 Mio. Flüchtlinge die Ukraine verlassen – der am schnellsten wachsende Flüchtlingsstrom in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrheit sind nach Polen, Ungarn, in die Slowakei, die Republik Moldau, nach Rumänien, in die Russische Föderation und nach Belarus geflohen. Die Zahl der Flüchtlinge steigt weiter.
- 2020 lebten in der Europäischen Region der WHO, einschließlich der Länder Zentralasiens, 101 Mio. grenzüberschreitende Migranten (Quelle: Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UNDESA), angepasst an die 53 Länder der Europäischen Region der WHO); dies entspricht über 13% der Gesamtbevölkerung Europas und Zentralasiens.
- Weltweit leben nach Schätzungen 281 Mio. Menschen außerhalb ihres Herkunftslandes. Das sind mehr als einer von 30 Menschen.
- Etwa 36% aller grenzüberschreitenden Migranten weltweit leben in den Ländern der Europäischen Region der WHO.
- Mit fast 16 Mio. Migranten (2020) ist Deutschland das führende Zielland innerhalb der Europäischen Region der WHO (und liegt weltweit hinter den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle). Die Zahl der in Deutschland lebenden Migranten erhöhte sich von 2015 bis 2020 um über 5 Mio. Die Mehrzahl sind Migranten aus der Europäischen Region, vor allem aus Polen, der Türkei, der Russischen Föderation und Kasachstan, doch viele kommen auch aus der Arabischen Republik Syrien (Weltmigrationsbericht 2022, S. 88).
- Auf den nächsten Plätzen hinsichtlich der Migrantenzahlen unter den Ländern der Europäischen Region folgen die Russische Föderation (11,6 Mio.), das Vereinigte Königreich (9,4 Mio.), Frankreich (8,5 Mio.), Spanien (6,8 Mio.), Italien (6,4 Mio.) und die Türkei (6 Mio.) (Quelle: UNDESA).
- Viele Länder im östlichen Teil der Europäischen Region, wie die Russische Föderation, die Ukraine, Polen und Rumänien, weisen besonders hohe Zahlen von Emigranten auf (Weltmigrationsbericht 2022, S. 88).