Die erste Tagung des Europäischen Bündnisses für psychische Gesundheit, einem neuen Netzwerk von Organisationen und Einzelpersonen, deren Ziel die Umgestaltung der Systeme für psychische Gesundheit in der gesamten Europäischen Region der WHO ist, kam zusammen, um Möglichkeiten zur Förderung der psychischen Gesundheit der Menschen in der Ukraine zu erörtern.
Die Tagung, die vom 4. bis 5. Mai stattfand, begann mit einer einstündigen Informationssitzung unter Leitung von Experten der WHO und Fachärzten aus dem Bereich der psychischen Gesundheit, die die Ukraine unterstützen. Dabei standen die außergewöhnlichen Anstrengungen im Mittelpunkt, die unternommen werden, um das ukrainische System für psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten und auf die psychischen Bedürfnisse der Menschen in der Ukraine sowie von Flüchtlingen in den Nachbarländern einzugehen.
Der Krieg in der Ukraine hat durch die unmittelbare Exposition gegenüber Gewalt und Grausamkeiten, Vertreibung und die Trennung von Familien Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Millionen von Menschen. Und auch das Gesundheitssystem in der Ukraine ist vom Krieg betroffen: seit dem 24. Februar hat die WHO über 200 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung gemeldet.
„Der wochenlange Krieg in der Ukraine hat in ungeheurem Ausmaß Ungewissheit und Unsicherheit, Trauer und Verlust gebracht. Durch Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen wurden zahllose Menschen der Hoffnung und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung beraubt. Ernährungsunsicherheit und Sicherheitsbedenken greifen in der Ukraine und ihren Nachbarländern rapide um sich. Die Kampfhandlungen führen in unermesslichem Umfang zum Verlust von Menschenleben und Existenzen, zu Zwangsvertreibung und zur Trennung von Familien“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.
„Das Psychiatriesystem der Ukraine, das über mehrere Jahre durch die Sonderinitiative der WHO für psychische Gesundheit gestärkt wurde, hat bereits reagiert – mit einer groß angelegten Schulung von Freiwilligen, der Förderung von Instrumenten zur Selbsthilfe und der Unterstützung der Schutzbedürftigsten in Einrichtungen in dem vom Krieg zerrissenen Land“, fügte er hinzu.
„Es gibt keinen Jungen, kein Mädchen, keine Frau und keinen Mann, die von dieser aktuellen Krise nicht betroffen sind“, erklärte Alisa Ladyk-Bryzghalova, national angeworbene Fachreferentin im WHO-Länderbüro in der Ukraine. „Und wir, die WHO, sind darum bemüht, die Menschen so gut wie möglich dabei zu unterstützen, die Folgen dieser Krise für ihre psychische Gesundheit zu bewältigen.“
Frau Ladyk-Bryzghalova und ihr Kollege Fahmy Hanna, Fachreferent der Abteilung für psychische Gesundheit und Substanzmissbrauch, sprachen per Videobotschaft, nachdem die Internetverbindungen in Lwiw infolge eines Luftangriffs unterbrochen worden waren.
Bündnis „entscheidend“ für die Förderung der psychischen Gesundheit
In einer Ansprache im Rahmen der Tagung erklärte Stella Kyriakides, Europäische Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, dass der Krieg in der Ukraine „die sich uns stellenden Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit“ verschärfe – von denen viele während der COVID-19-Pandemie offenbart worden seien. „Und daher ist dieses Bündnis so entscheidend.“
Während Notlagen auf die psychischen Bedürfnisse der Menschen einzugehen, ist ein zentraler Arbeitsbereich des Bündnisses, eines von sechs Arbeitspaketen, die im Laufe der zweitägigen Tagung von über 150 Teilnehmern diskutiert wurden, darunter Vertreter aus den Ländern, Mitarbeiter internationaler nichtstaatlicher Organisationen, Experten für psychische Gesundheit und Menschen, die mit psychischen Gesundheitsproblemen leben.
Diese Arbeitspakete zielen darauf ab, das Thema psychische Gesundheit nicht nur als reinen Teilbereich der Gesundheitsversorgung aufzustellen, sondern es in den Mittelpunkt jeder funktionierenden Gesellschaft zu rücken – unterstützt von Arbeitsplätzen, Schulen und Gemeinschaften, für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen. Genauer gesagt sind die Mitglieder des Bündnisses darum bemüht, bewährte Praktiken und Instrumente zu identifizieren und einen Rahmen für diese Praktiken auszuarbeiten, damit diese auf einfache Weise an bestimmte Gegebenheiten und Kulturen angepasst werden können.
„Wir sollten einen vollständig inklusiven Plan für die Europäische Region anstreben, der die Mitgliedstaaten dazu antreibt, einen neuen Ansatz für das Konzept der psychischen Gesundheit zu fördern“, erklärte Stelios Kympouropoulos, Mitglied des Europäischen Parlaments. Er forderte, das Thema psychische Gesundheit zu einer politischen Priorität für alle Regierungen zu machen, sowie „erhebliche finanzielle Investitionen auf Ebene der wissenschaftlichen Forschung und der personellen Ressourcen“.
Die Informationssitzung zur Ukraine zeigte auf, dass ein gut geplantes System für die psychische Gesundheit mit gut ausgebildeten motivierten Fachkräften und Freiwilligen selbst die schlimmsten Umstände durchstehen kann. Oleksii Kostiuchenkov, ein Psychiater aus dem Gemeindeteam für die psychische Gesundheitsversorgung in der Oblast Donezk in der Ukraine, sprach über die Anpassungsfähigkeit seines Teams trotz groß angelegter Evakuierungen von Patienten mit psychischen Gesundheitsproblemen. „Wir sprechen weiterhin online und über das Telefon mit unseren Patienten“, erläuterte er. Auf ihn folgte Natalia Morhun, eine Familienärztin aus dem gleichen Gebiet, die an der Umsetzung des Aktionsprogramms der WHO zur Schließung von Lücken in der psychischen Gesundheitsversorgung (mhGAP) beteiligt ist.
Innerhalb weniger Tage nach dem Ausbruch des Krieges hatte WHO/Europa ein Team von Fachkräften für psychische Gesundheit in die Ukraine und in die Nachbarländer entsandt, um dort Arbeitsgruppen einzurichten und zu leiten, die die Zusammenarbeit mit Regierungen und anderen Hilfsorganisationen koordinieren sollen, darunter etwa das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC). Diese Partnerorganisationen sind gemeinsam darum bemüht, Überlebende mit aller Art von psychologischer Unterstützung auszustatten – von grundlegender Sicherheit und Unterstützung von Familien bis hin zu fachärztlichen Angeboten für Menschen mit schweren psychischen Gesundheitsproblemen. Frau Ladyk-Bryzghalova verwies insbesondere auf ein Programm zur Stressbewältigung, das die WHO gemeinsam mit den ukrainischen Ministerien für Gesundheit und Soziales organisiert hat.
Die Hoffnung auf Veränderungen und die Entschlossenheit, diese Veränderungen durchzusetzen, standen im Mittelpunkt der Informationssitzung zur Ukraine und der restlichen zwei Tage der Tagung, in deren Verlauf die Mitglieder des Bündnisses in kleinen Arbeitsgruppen zusammenkamen, um mit der Ausarbeitung des Inhalts der Arbeitspakete zu beginnen. Geplant ist, einige der Arbeitspakete bis zum Ende des Jahres in mehreren Ländern zu erproben.