Erklärung – Die Menschheit muss die Zügel fest in der Hand halten: Die Europäische Region kann durch ethisch verantwortliche Nutzung der KI mehr Gesundheit schaffen

Eröffnungsansprache von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, anlässlich der Hochrangigen Tagung zum Thema „KI im Gesundheits- und Pflegewesen in der Europäischen Region: Praktische Lösungen für eine gesunde Zukunft“

19 November 2025
Statement
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Valletta (Malta), 19. November 2025

Sehr geehrte Ministerinnen und Minister, Kolleginnen und Kollegen und Partner,

die Welt steht an der Schwelle einer stillen Revolution, die nicht durch Dampf oder Silizium, sondern durch Daten und Algorithmen angetrieben wird. 

Stellen Sie sich einmal eine Welt vor – in nur zehn Jahren –, in der eine Mutter in einem kleinen Dorf eine Sofortdiagnose über ihr Telefon erhalten kann, die von einer KI kommt, die ihre Sprache spricht und ihre Krankengeschichte kennt; in der eine Krankenschwester in einer kleinen Klinik auf die gleichen hochmodernen Instrumente zugreifen kann wie führende Krankenhäuser in Paris oder Stockholm; in der alle Beschäftigten im Gesundheitswesen – von Freiwilligen auf der kommunalen Ebene bis zu Fachärzten – einen KI-Assistenten haben, der nie müde wird, nie vergisst und ihnen hilft, sich auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist – den Menschen vor ihnen. 

Dies ist keine Science-Fiction; diese Welt ist für uns erreichbar – aber nur, wenn wir sie verantwortungsbewusst gestalten. 

Und nun stellen Sie sich stattdessen eine andere Zukunft vor – eine, in der KI eher spaltet als verbindet; in der die beste Versorgung an diejenigen geht, die sich die besten Daten leisten können; in der Voreingenommenheit unkontrolliert bleibt, Fehlinformationen sich wie ein Lauffeuer verbreiten und das Vertrauen in die Wissenschaft schwindet. 

Diese beiden Zukunftsvorstellungen werden nicht durch Codes geschrieben, sondern durch die Entscheidungen, die wir heute in Bezug auf Regulierung, Chancengerechtigkeit und Ethik im Bereich KI treffen. 

Über unsere Zukunft werden nicht die Technologien allein entscheiden, sondern unsere Werte. 

Wir stehen vor einer enormen Herausforderung. 

Heute haben 4,5 Milliarden Menschen – die Hälfte der Menschheit – keine gesundheitliche Grundversorgung. 

Zwei Milliarden Menschen sind infolge der Kosten für die Gesundheitsversorgung verarmt. 

Und bis 2030 werden weltweit bis zu 11 Millionen medizinische Fachkräfte fehlen.

Gleichzeitig stehen wir an der Schwelle zu einer KI-Revolution im Gesundheitswesen, die das Potenzial hat, diese Herausforderungen zu bewältigen.

In der gesamten Europäischen Region werden mit KI bereits Krankheiten diagnostiziert, Gesundheitsrisiken prognostiziert und Patienten mit Leistungen versorgt, die früher unerreichbar schienen. 

Aber die Technologie entwickelt sich schneller als unsere Fähigkeit, sie zu regulieren. 

Und das hat Auswirkungen sowohl auf die Anwendung dieser Technologien als auch auf das Vertrauen der Menschen in sie.

Die Frage, die sich uns stellt, ist einfach, aber tiefgreifend: Wird die KI die Ungleichheit vertiefen oder wird sie die Gesundheit und das Wohlbefinden aller unserer Bürger verbessern? 

Unser neuer Bericht liefert die erste regionsweite Momentaufnahme der KI-Bereitschaft in 50 unserer 53 Mitgliedstaaten.

Die Ergebnisse sind ernüchternd:
  • In nur 4 von 50 Ländern gibt es eine gesundheitsspezifische nationale KI-Strategie.
  • Weniger als ein Viertel der Länder bietet KI-Schulungen für Gesundheitsfachkräfte an.
  • Nur 4 von 50 Ländern verfügen über Haftungsnormen zur Regelung der Verantwortung bei Versagen von KI.
  • 86 % der Mitgliedstaaten (43 von 50) nennen die Rechtsunsicherheit als größtes Hindernis für die Einführung, dicht gefolgt von finanziellen Engpässen (78 %; 39 von 50).
Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die KI-Revolution im Gesundheitswesen ist bereits im Gange, aber die Bereitschaft, die Kapazitäten und die Regulierung sind sehr uneinheitlich.

Und doch gibt es Gründe für Optimismus:
  • 64 % der Länder (32 von 50) nutzen bereits KI-gestützte Diagnostik, insbesondere in der Bildgebung.
  • Die Hälfte nutzt KI-Chatbots zur Unterstützung von Patienten.
  • Fast alle – 98 % (49 von 50) – nennen die Verbesserung der Patientenversorgung als oberste Priorität, und 92 % (46 von 50) sehen KI als Schlüssel zur Entlastung des Gesundheitspersonals.
Für die Menschen, denen wir dienen, steht das Potenzial der KI oft in krassem Gegensatz zu ihren eigenen Erfahrungen.

In der gesamten Europäischen Region leidet das Gesundheitspersonal unter Burnout, exzessiver Bürokratie und Personalmangel. 

Die Politik sieht sich steigenden Erwartungen bei begrenzten Ressourcen gegenüber.

Die Bürger befinden sich in einer Vertrauenskrise: in Bezug auf Daten, Institutionen und manchmal sogar die Wissenschaft selbst.

Und genau hier kann die KI am meisten bewirken, allerdings nur mit vertrauenswürdigen rechtlichen Sicherheitsnetzen und gestützt auf Werte.

Welche Werte, werden Sie sich fragen. 

Hier kommt die WHO ins Spiel, die seit über 75 Jahren als führende Instanz im Bereich der öffentlichen Gesundheit tätig ist und sich dabei auf unsere Werte – Ethik, Solidarität und Vertrauen in die Wissenschaft – stützt. 

In dieser neuen Ära wird die WHO dazu beitragen, die Normen und ethischen Leitplanken zu setzen, die die Menschen schützen und gleichzeitig Innovationen ermöglichen; wir werden die Bereitschaft messen und dort, wo es nötig ist, Kapazitäten aufbauen; und wir werden als neutrale Plattform für die Zusammenarbeit dienen, die Regierungen, Innovatoren und Gemeinschaften auf dem gemeinsamen Weg zu KI und Gesundheit zusammenführt. 

In der ungeheuer großen Europäischen Region gibt es eine Vielzahl inspirierender Fallbeispiele.

In der Türkei verbessert KI im Mammographie-Screening die Genauigkeit und den Zugang für alle Frauen zwischen 40 und 69 Jahren; sie entlastet die Radiologen und schützt gleichzeitig die Privatsphäre.

In der Slowakei verkürzt die KI-gestützte Strahlentherapieplanung die Vorbereitungszeit um die Hälfte, sodass sich die Onkologen auf die Patienten konzentrieren können.

In Finnland ermöglicht die Datenanonymisierung der nächsten Generation die sichere Nutzung von realen Daten zu Forschungszwecken bei vollem Schutz der Privatsphäre.

Und im Vereinigten Königreich hat die KI-gesteuerte Schlaganfalldiagnostik des National Health Service die Zahl der lebensrettenden Behandlungen um 280 % erhöht und die Heilungsraten verdoppelt.

Diese Beispiele zeigen, dass eine KI, bei der die Regulierung wertorientiert ist, das Gesundheitspersonal befähigt und nicht ersetzt, die Chancengleichheit erhöht und nicht vermindert und Zeit für Fürsorglichkeit und Mitgefühl schafft. 

Wenn die Technologie von Menschlichkeit geleitet wird, wird KI nicht zu Künstlicher Intelligenz, sondern zu erweiterter Intelligenz – im Dienste des Lebens und der Menschenwürde.

Heute rufe ich die Verantwortlichen und Entscheidungsträger in der Gesundheitspolitik auf, vier Dinge zu tun: 

Erstens müssen wir die KI zielgerichtet steuern. KI sollte sicher und ethisch ausgerichtet sein und im Einklang mit den Menschenrechten stehen.

Zweitens müssen wir hierfür in die Menschen investieren. Nicht die Technik heilt den Patienten, sondern der Mensch.

Drittens müssen wir vertrauenswürdige Datenökosysteme aufbauen. Ohne öffentliches Vertrauen in Daten sind Innovationen zum Scheitern verurteilt. 

Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig, als grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. KI kennt keine Grenzen. Unsere Zusammenarbeit darf auch keine kennen. 

Die Europäische Region hat die historische Chance, eine Vorreiterrolle in der Welt einzunehmen, indem sie globale Normen für einen verantwortungsvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz setzt, die auf unseren gemeinsamen Werten von Freiheit und Fairness beruhen. 
Liebe Freunde! 

Die Künstliche Intelligenz wird die Gesundheit in diesem Jahrhundert ebenso prägen, wie Hygiene, Impfungen und allgemeine Gesundheitsversorgung das letzte Jahrhundert geprägt haben.

Der eigentliche Test, der vor uns liegt, ist nicht, wie schnell die KI voranschreitet, sondern wie klug die Menschheit sie steuert. 

Der Erfolg wird sich daran messen lassen, wie sehr er unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden verbessert. 

Deshalb müssen wir, wenn wir gemeinsam die Geschichte von KI und Gesundheit schreiben, darauf achten, dass die Menschheit stets die Zügel in der Hand behält.

Ich danke Ihnen.