Kiew, 20. Mai 2022
In dieser Woche führte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, eine Delegation in die Ukraine, um eine Bestandsaufnahme der unmittelbaren und langfristigen gesundheitlichen Bedürfnisse, der Notfallmaßnahmen der WHO
und der wirksamsten Wege zur Stärkung des Gesundheitssystems im Hinblick auf die Bewältigung der durch den Krieg verursachten Schäden sowie den anschließenden Wiederaufbau durchzuführen.
„Wir müssen die Gesundheit in den Mittelpunkt des Wiederaufbaus in der Ukraine stellen. Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit geht nichts“, betonte Dr. Kluge zum Abschluss seines fünftägigen Besuchs.
„Auch wenn wir heute noch damit beschäftigt sind, die dringenden gesundheitlichen Bedürfnisse in der Ukraine zu erfüllen, so richten wir doch auch schon den Blick in die Zukunft – und auf die Frage, wie wir der Ukraine dabei
behilflich sein können, ihr Gesundheitssystem beim Wiederaufbau intelligenter, widerstandsfähiger und umweltverträglicher zu gestalten. Das Gesundheitssystem hat einen beschwerlichen Weg zum Wiederaufbau vor sich. Die WHO wird die Ukraine
auf dem gesamten Weg begleiten.“
Dies war Dr. Kluges dritter Besuch in der Ukraine in diesem Jahr, und der zweite seit Beginn des Krieges am 24. Februar. Während seines Besuchs traf Dr. Kluge mit hochrangigen Vertretern der Gesundheitspolitik und anderer Ressorts zusammen,
u. a. mit der First Lady der Ukraine, dem Ministerpräsidenten, dem Gesundheitsminister und der Residierenden Koordinatorin der Vereinten Nationen in der Ukraine sowie mit Repräsentanten des ukrainischen Parlaments, des Nationalen Sicherheits-
und Verteidigungsrates und des Nationalen Rates für Wiederaufbau. Dr. Kluge nahm auch an einer Diskussion am Runden Tisch mit Vertretern von Zivilgesellschaft und nichtstaatlichen Organisationen teil.
„Ich bin wieder in die Ukraine gekommen, um über die aktuelle gesundheitliche Lage zu sprechen, und darüber, wie das Gesundheitssystem bei der Bewältigung der Folgen des Krieges, um mit Mitarbeitern der WHO zusammenzutreffen und um
dem Gesundheitspersonal und dem Gesundheitsministerium meine uneingeschränkte Unterstützung zuzusichern“, sagte der Regionaldirektor.
Gesundheit im Mittelpunkt des Wiederaufbaus
Etwa 300 Gesundheitseinrichtungen liegen in Konfliktgebieten, und etwa 1000 Einrichtungen in Gebieten, die mittlerweile unter fremder Kontrolle stehen, was das Gesundheitssystem äußerst anfällig für Schäden an der Infrastruktur
und schwere Beeinträchtigungen bei lebenswichtigen Leistungen macht. Der Zugang zu Arzneimitteln, Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitspersonal ist in manchen Gebieten eingeschränkt oder gar unmöglich. Nach Schätzungen sind
fast die Hälfte aller Apotheken in der Ukraine geschlossen. Viele Gesundheitsfachkräfte wurden entweder vertrieben oder sind nicht in der Lage zu arbeiten, doch viele setzen ihre Arbeit fort, unabhängig davon, wo sie sich gerade befinden.
Die WHO hat bereits mit der Arbeit an Strategien zur Unterstützung des Wiederaufbaus des Gesundheitssystems und zur Wiederherstellung der dringend benötigten Gesundheitsangebote für die Menschen begonnen.
Dr. Jarno Habicht, Repräsentant der WHO und Leiter ihres Länderbüros in der Ukraine, stellte fest: „Die WHO bemüht sich nicht nur um gesundheitlich-humanitäre Hilfe für die Ukraine, sondern strebt auch an, dies mit
der Aufrechterhaltung der gesundheitlichen Grundversorgung zu verknüpfen und gleichzeitig die Regierung bei der Wiederherstellung des Gesundheitswesens zu unterstützen und zum Aufbau eines belastbareren und widerstandsfähigeren Gesundheitssystems
beizutragen, das den gesundheitlichen Bedürfnissen der ukrainischen Bevölkerung besser gerecht wird.“
Zusammentreffen mit Gesundheitspersonal an der Front
Im Rahmen seines Besuchs begleitete Dr. Kluge Gesundheitsminister Viktor Liashko zu Gesprächen mit entlang der Frontlinie eingesetzten Gesundheitsfachkräften in der Region Chernihiv, die infolge der Kampfhandlungen schwere Schäden erlitten
hat und weiterhin unter Beschuss steht. Das Gesundheitspersonal versorgt nach wie vor die Kranken – ungeachtet des Beschusses, inmitten beschädigter Mauern und zerborstener Fensterscheiben.
„Die Geschichten, die mir in Chernihiv erzählt wurden, waren herzzerreißend und erhebend zugleich. Diese Region hat zu Beginn des Krieges erbitterte Kämpfe erlebt, bei denen zahlreiche Gesundheitseinrichtungen beschädigt oder
zerstört wurden. Auch jetzt kommt es noch gelegentlich zu Artilleriebeschuss. Als Arzt geht es mir wirklich nahe zu hören, wenn andere Ärzte mir erzählen, wie die Gesundheitseinrichtungen allesamt unter schwerem Beschuss lagen.
Doch das Gesundheitspersonal hat das Unmögliche geschafft. Sie haben überlebt und dabei Menschenleben gerettet. So sehen wahre Heldinnen und Helden aus“, erklärte Dr. Kluge.
Nach aktuellem Stand hat die WHO insgesamt 236 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine bestätigt. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine hat sich die WHO immer wieder für den Schutz und die Sicherheit von Gesundheitseinrichtungen
und ihrem Personal eingesetzt. Der Schutz der Gesundheitsversorgung muss immer gewährleistet sein, insbesondere bei bewaffneten Konflikten, damit die Bevölkerung der Ukraine Zugang zu den benötigten Leistungen hat.
Psychische Gesundheit
Zu den vorrangigen Anliegen der Delegation gehörte auch die psychische Gesundheitsversorgung, die für die gesundheitlichen Gegenmaßnahmen und den Wiederaufbau gleichermaßen von zentraler Bedeutung ist. Dr. Kluge und Dr. Habicht erörterten
in einem Gespräch mit der First Lady Olena Selenska die Rolle der WHO bei der Bereitstellung von Sachverstand für die Schaffung eines nationalen Programms zur Förderung der psychischen Gesundheit. Frau Selenska schlug vor, den jährlich
im Oktober begangenen Welttag für psychische Gesundheit diesmal der psychischen Gesundheit in Kriegszeiten zu widmen.
Dr. Kluge erklärte sich bereit, den Sachverstand der WHO zur Förderung der psychischen Gesundheit zur Verfügung zu stellen, und bot die Hilfe der WHO an, um ein Treffen zwischen der First Lady und Königin Mathilde von Belgien, einer
aktiven Botschafterin der Vereinten Nationen für psychische Gesundheit, zu arrangieren.
Heute sind 42 Millionen Menschen in der Ukraine einer enormen Stressbelastung und einem hohen Maß an Ungewissheit ausgesetzt. Viele haben Gewalt gesehen, und über 10 Millionen wurden gewaltsam vertrieben. Über 16 000 Menschen mit moderaten
bis schweren psychischen Erkrankungen sind von Engpässen bei unentbehrlichen Arzneimitteln betroffen.
Notfallmaßnahmen
Die WHO hat über 480 Tonnen an humanitären Hilfsgütern in die Ukraine geliefert. Darunter waren 195 Tonnen an lebensrettenden Hilfsgütern, die an die Bezirke verteilt wurden, überwiegend im Osten, Süden und Norden des Landes,
wo die Not am größten ist.
Die WHO arbeitet auch darauf hin, das an vorderster Linie tätige Gesundheitspersonal angemessen auszustatten und zu schulen, indem sie zweimal wöchentlich Kurse anbietet, in denen nun schon Tausende von ukrainischen Gesundheitsfachkräften
für die Bewältigung hoher Opferzahlen geschult wurden.
„Wir bemühen uns auf den drei Ebenen der WHO – hier im Land sowie auf der Regionsebene und der globalen Ebene – darum, unsere Hilfsmaßnahmen für die Ukraine auszuweiten, um dem immensen Bedarf der unter dem Krieg leidenden
Menschen nachzukommen“, erklärte Dr. Habicht.
Seit Beginn des Krieges hat die WHO ihre Arbeit umstrukturiert und ihre Aktionen intensiviert, um den Schutzbedürftigsten zu helfen und diejenigen gesundheitlich zu versorgen, die es am dringendsten benötigen. Die WHO hat:
- genügend Hilfsgüter für die Trauma- und Notfallversorgung zur Durchführung von bis zu 15 900 operativen Eingriffen geliefert;
- genügend Arzneimittel und medizinische Geräte zur Versorgung von 650 000 Menschen geliefert;
- 15 Dieselgeneratoren zur Deckung des Energiebedarfs von Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen geliefert;
- 1000 Ampullen Tocilizumab zur Behandlung schwerer und lebensbedrohlicher Fälle von COVID-19 geliefert;
- 20 geländegängige Krankenwagen an das Gesundheitsministerium geliefert; und
- durch die Schwerpunktgruppe Gesundheit für die Ukraine (Ukraine Health Cluster) 97 internationale und lokale Partner für Maßnahmen im Gesundheitsbereich in 24 Bezirken gewonnen.