Psychologische Unterstützung für andere Flüchtlinge: „Scheut euch nicht, um Hilfe zu bitten“ – die Geschichte von Oksana

20 June 2022
News release
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Anlässlich des Weltflüchtlingstags sprach die WHO mit der im Bereich psychische Gesundheit tätigen Freiwilligen Oksana Vitvitska, die selbst eine von 3,5 Mio. ukrainischen Flüchtlingen ist, die sich derzeit in Polen aufhalten. 

An diesem Tag, an dem wir die Stärke, den Mut und die Widerstandsfähigkeit von Millionen von Flüchtlingen weltweit feiern und würdigen, erzählt uns Oksana von ihrer Mühsal und der Bedeutung von psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung und hebt dabei hervor, wie wichtig die Botschaft zum diesjährigen Weltflüchtlingstag ist: „Wer auch immer. Wo auch immer. Wann auch immer. Jeder hat das gleiche Recht, sich in Sicherheit zu bringen.“

Oksana ist eine 32-jährige Psychologie-Studentin aus Kiew und erhält in diesem Monat ihren Master-Abschluss. Sie sprach mit WHO/Europa über ihre Erfahrungen in einer Behelfsunterkunft in Kiew, wo sie einen Monat lang unter heftiger Bombardierung psychologische erste Hilfe leistete, bevor sie selbst auf der Suche nach Sicherheit und Schutz nach Polen flüchtete. 

Sie war gezwungen, zusammen mit dem Rest ihrer Familie und ihrem geliebten Papagei Freya aus ihrer Heimat zu fliehen. 

„Ich wollte immer Psychologin werden. Vor Jahren hatten einige Verwandte mit Problemen zu kämpfen und ich wollte ihnen helfen, also begann ich, wissenschaftliche Artikel zu lesen, vertiefte mich in die Fachliteratur und beschloss, meinen Beruf zu wechseln“, erzählt sie. „Im Februar war ich gerade dabei, meine Abschlussarbeit in Polen fertigzustellen, doch dann erlitt meine Mutter einen Herzinfarkt und ich beschloss sofort, nach Kiew zurückzukehren, um mich um sie zu kümmern und meinem Vater zu helfen.“

Wie viele andere auch, tat Oksana ihr Bestes, um ein erfolgreiches Leben zu führen, als der Krieg in der Ukraine begann: sie ging ihrem Traum nach, kümmerte sich um ihre Familie und konzentrierte sich auf ihre Master-Arbeit – bis dass der Krieg alles auf den Kopf stellte.

„Am 24. Februar konnte ich nicht schlafen. Ich war dabei, das letzte Kapitel meiner Abschlussarbeit fertigzustellen und verfolgte die Sitzung des Sicherheitsrates zur Ukraine im Fernsehen“, sagt sie. „Während einer der Ansprachen schlugen plötzlich Raketen und Bomben in meiner Nachbarschaft ein. Das war ungefähr um 4 oder 5 Uhr morgens.“ 

„Es war schrecklich. Meine Eltern wachten auf und waren in Panik und desorientiert. Ich begann sofort, das Nötigste zusammenzupacken: Dokumente und Medikamente für meine Mutter. Mit nur ein paar Habseligkeiten und meinem Papagei flüchteten wir in einen unterirdischen überfüllten behelfsmäßigen Schutzraum, wo bereits über 100 Menschen, vor allem Frauen mit Kindern und ältere Menschen, vor dem Artilleriebeschuss Schutz suchten.“

Ein Gymnastikraum wird zur Behelfsunterkunft


Sie wussten nicht, dass der überfüllte Keller, der normalerweise als Gymnastikraum diente, für die nächsten 1,5 Monate zu ihrem Obdach werden würde. Sie mussten sich um alles selbst kümmern: von der Suche nach Verbandskästen, Lebensmitteln und Wasser bis hin zur Verstärkung von Decken und der Organisation von Sicherheitsprotokollen und Wachen untereinander. Und vor allem mussten sie mit den schweren Panikattacken und der enormen Belastung zurechtkommen, mit denen die Menschen in dem Schutzraum zu kämpfen hatten.

„Die ersten fünf Tage schlief ich nur für ein paar Stunden. Ich ging von Ecke zu Ecke und versuchte, die Menschen, die psychologische Hilfe benötigten, zu beruhigen und zu trösten. Es gab extreme Fälle unter älteren Menschen, die unter schwerem Stress und psychischer Absonderung litten, Kinder, die nur weinten, Hunde, die bellten, und Mütter, die sich völlig hilflos fühlten. 

Einige Fälle waren so schlimm, dass ich meine Professoren von der Universität in Polen um Rat fragen musste. Sie unterstützten mich über das Handy mit ihrem Fachwissen. Das Schlimmste war, dass unsere Angst von Tag zu Tag größer wurde. Wir hörten Geschichten über russische Saboteure, die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begingen, und Falschinformationen über die zusammenbrechende ukrainische Verteidigung und russische Panzer auf den Straßen. Sie können sich das Ausmaß der Angst und Furcht nicht vorstellen, wenn man jede Stunde den frenetischen Klang der Sirenen und die lauten Explosionen um einen herum hört. Nach der ständigen Bombardierung lernt man sogar, die einzelnen Geräusche der unterschiedlichen Waffen zu unterscheiden: Artillerie, Raketen, Mörser, selbst die eigenen Flugabwehrsysteme“, erklärt Oksana. 

Nach Wochen im Untergrund begann sich die Gesundheit ihrer Mutter zu verschlechtern und sie fingen an, über eine Flucht aus ihrem Heimatland nachzudenken. Anfang April wurde Kiew zum größten Evakuierungsdrehkreuz Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen von Frauen, älteren Menschen und Kindern aus Hunderten ukrainischen Städten flohen vor Tod und Gewalt. Das einzige Transportmittel nach Polen war die Bahn. 

„Wir konnte nicht früher fliehen, ich war die einzige Psychologin in der Unterkunft und konnte die Menschen dort nicht einfach zurücklassen. Ich fühlte mich für sie verantwortlich. Doch mit dem vorübergehenden Rückzug der russischen Armee begann sich die Lage zu bessern, sodass viele Menschen nach und nach die Unterkunft verließen. Zwei Tage bevor ich die Unterkunft verließ, sagte ich allen, dass meine Eltern und ich nach Polen gehen würden und dass ich nicht länger in der Lage sein würde, psychologische Hilfe zu leisten. Es war herzzerbrechend, aber zu dem Zeitpunkt war die Anzahl der Menschen in der Unterkunft auf 20 gesunken. Bevor wir uns auf unsere ungewisse Reise nach Polen machten, mussten wir stundenlang am Hauptbahnhof von Kiew warten. Und dort traf ich ein junges Mädchen aus Mariupol.“ 

Die Geschichte des Mädchens lässt Oksana seitdem nicht mehr los.

„Sie kam auf mich zu wegen meines bunten Vogels, und ich erkannte sofort die tief sitzende Traurigkeit in ihren Augen. Sie war nur 6 Jahre alt und ihr Geist hatte offenbar unterbewusst einen Mechanismus entwickelt, um mit dem enormen Stress umgehen zu können: sie erzählte mir ein surreales Märchen. Sie beschrieb den Tod ihrer Großmutter, ihrer Haustiere und ihrer Freunde wie in einem Märchen. Es war sowohl herzzerbrechend als auch erschreckend“, erzählt Oksana.

Mit offenen Armen empfangen


Nach einer gefahrvollen Reisen kamen Oksana und ihre Familie um 3 Uhr morgens an der polnisch-ukrainischen Grenze an. Sie erinnert sich an den freundlichen Empfang durch die polnischen Grenzbeamten und humanitäre Freiwillige und die enorme Großzügigkeit eines jungen polnischen Paares, das sie an der Grenze abholte und in ihr Haus aufnahm. 

Heute leistet Oksana selbst freiwillige Hilfe in der polnischen Stadt Przemyśl, wo sie an einem der wichtigsten humanitären Knotenpunkte psychosoziale Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge leistet. Sie weiß um die Herausforderungen in Bezug auf die psychische Gesundheit und ist der Ansicht, dass internationale humanitäre Akteure mehr Schulungen für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung anbieten und eine entsprechende Koordination ermöglichen sollten und dass angesichts der Auswirkungen des Krieges auf die psychische Gesundheit der Flüchtlinge, die aus Orten wie Cherson oder Mariupol ankommen, auch Freiwillige einer fachlichen Betreuung bedürfen. Darüber hinaus betont sie, wie wichtig es sei, besondere Versorgungszentren für die psychische Gesundheit für Langzeitpatienten einzurichten.

„Die meisten Menschen, die von einer humanitären Notlage betroffen sind, werden Anzeichen von Qual und Leid zeigen, wie Furcht und Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen, Müdigkeit, Reizbarkeit oder Wut sowie körperliche Schmerzen. Das ist zu erwarten und wird sich bei den meisten Menschen mit der Zeit bessern. Doch es ist sehr wahrscheinlich, dass einige in Zukunft posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln werden, und ich würde den Betroffenen gerne helfen und entsprechende Maßnahmen koordinieren. Wie gestern etwa, als ich mit einer älteren ukrainischen Dame zum psychiatrischen Krankenhaus in Zurawica, in der Nähe von Przemyśl, gefahren bin. Doch manchmal muss man auch an sich selbst denken und sich eine Pause gönnen, um einen Burnout zu vermeiden. Und man sollte über einen guten Betreuer verfügen, mit dem man sich über seine Erfahrungen austauschen kann. Ich hatte Glück, dass eine meiner Freunde, Joanna, die seit kurzer Zeit im WHO-Länderbüro in Polen arbeitet, mich mit einem ukrainischen Experten in Verbindung gesetzt hat, der in den Vereinigten Staaten lebt. Das hat mir enorm dabei geholfen, die Folgen meiner Arbeit und des Umgangs mit den schlimmsten Fällen zu begrenzen. Es ist eine große Erleichterung, wenn man seine schwierigen Erfahrungen mit einem älteren Kollegen teilen kann“, erläutert Oksana. 

Oksana hatte auch eine Botschaft für andere Flüchtlinge auf der ganzen Welt:

„Wenn man das Gefühl hat, dass man psychologische Hilfe braucht und man nicht mit seinen Erinnerungen und Gefühlen klarkommt, sollte man die Freiwilligen in psychologischen Supportzentren um Hilfe bitten. Die physische Gesundheit ist enorm wichtig, denn sie wirkt sich auch auf die körperliche Gesundheit aus. Wenn man sich jetzt mit seinen Erinnerungen auseinandersetzt, wird man es später leichter haben. Viele Menschen haben den Eindruck, dass sie alleine damit klarkommen, und dass sie Fremden nicht vertrauen sollten. Aber scheut euch nicht, um Hilfe zu bitten“, sagt Oksana.

Das WHO-Länderbüro in Polen hat eine Fachliche Arbeitsgruppe für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung eingerichtet, um die entsprechenden Angebote vor Ort zu koordinieren und die Bedürfnisse der Menschen besser zu verstehen, Ratschläge zu erteilen, Ressourcen zu übersetzen und Partnerorganisationen fachlich zu unterstützen.