Durch die COVID-19-Pandemie bedingte Rückstaus und Verzögerungen bei nicht durch Notfall veranlassten Gesundheitsleistungen haben die Gesundheitssysteme stark belastet und dazu geführt, dass Millionen Menschen in fast allen Ländern der Europäischen Region der WHO unversorgt blieben.
Aus der neuen Studie, die von WHO/Europa zusammen mit dem Europäischen Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik und dem Nuffield Trust veröffentlicht wurde, geht hervor, dass vor allem während der Hochphasen der Pandemie Millionen Menschen eine Streichung oder Verschiebung ihrer elektiven Eingriffe hinnehmen mussten, in erster Linie zum Zwecke der Erhaltung der für die Versorgung von COVID-19-Patienten erforderlichen Kapazitäten und zur Vermeidung von Infektionen. Neue Erkenntnisse zeigen, dass jede Verzögerung eine Verschlechterung des Gesundheitszustands, eine längere Genesungszeit und eine Verringerung der Überlebenschancen zur Folge haben kann.
In dem Hintergrundpapier werden auch Konzepte geschildert, die den Ländern dabei behilflich sein können, künftig die Folgen solcher Beeinträchtigungen zu dämpfen.
„Wir alle wissen, dass die Gesundheitssysteme mancher Länder unserer Region zwar zu den leistungsfähigsten in der Welt zählen, dass aber keines von ihnen vollständig vorbereitet und ausreichend widerstandsfähig war, um die weitreichenden Folgen dieser Notlage zu bewältigen“, sagte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.
Er fügte hinzu: „Um das Leistungsangebot wieder auf den Stand von vor der Pandemie zu bringen und die versäumten Leistungen nachzuholen, müssen wir uns die Lehren vergegenwärtigen und entsprechend handeln, vor allem durch Investitionen in das Gesundheitspersonal und mehr Geld für die künftige Gesundheitsinfrastruktur und durch Aufrechterhaltung der innovativen Formen der Leistungserbringung, die sich beim Erreichen wesentlicher Zielgruppen während der Pandemie als so nützlich erwiesen haben.“
Gesundheitsversorgung in der gesamten Europäischen Region beeinträchtigt
Die WHO hat insgesamt drei „Pulstests“ durchgeführt, die den Zeitraum von Februar 2020 bis November 2021 betrafen. Zwischen Februar und August 2020 meldeten 92% der Länder der Europäischen Region eine Beeinträchtigung der Versorgung in irgendeiner Form. Mit Fortschreiten der Pandemie meldeten die Länder niedrigere Beeinträchtigungen, doch waren immer noch durchschnittlich 26% der Leistungen betroffen.
Die neue Studie verdeutlicht, dass von den Beeinträchtigungen und Rückstaus ein breites Spektrum von Leistungen betroffen ist. Auch wenn während der ersten Phasen der Pandemie insbesondere der Krankenhausbetrieb, zahnärztliche Behandlungen und die psychische Gesundheitsversorgung beeinträchtigt waren, so änderte sich das Bild doch danach allmählich. 2021 kam es vor allem zu Rückstaus in der primären Gesundheitsversorgung und in der Notfallversorgung.
„Diese Erkenntnisse sind wichtig und sollten als Weckruf für die Gesundheitssysteme in allen Teilen der Europäischen Region dienen“, erklärte Dr. Natasha Azzopardi Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder bei WHO/Europa. „Die Beeinträchtigungen während der Pandemie haben zu einem erheblichen Nachholbedarf geführt, und jede Verzögerung, insbesondere in Bereichen wie Krebsversorgung oder Routineimpfungen, kann schwerwiegende Folgen haben.
Wie die Länder die Rückstaus abbauen können
Die zuständigen Entscheidungsträger sollten darauf hinarbeiten, die Rückstaus so schnell wie möglichst abzubauen, um die vor der Pandemie erzielten gesundheitlichen Zugewinne zu erhalten und eine überhöhte Sterblichkeit zu vermeiden. Auch sollten sie sich darüber im Klaren sein, dass eine Rückkehr zum Zustand wie vor der Pandemie nicht ausreichen wird, um die Wartezeiten zu verringern.
Bisher haben die Länder unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um die Rückstände aufzuholen. Nun kommt es darauf an, diese Maßnahmen so zu gestalten, dass sie ein kurzfristiges Aufholen ermöglichen und gleichzeitig auf längere Sicht Kapazitäten aufbauen.
„Es ist wichtig, dass Konzepte zur Beseitigung von Rückstaus nicht unbeabsichtigt neue Ungleichheiten schaffen“, warnte Dr. Ewout van Ginneken, Programmleiter beim Europäischen Observatorium, der das Hintergrundpapier redaktionell bearbeitet hat. „Und es ist entscheidend, dass wir systematisch zuverlässige Daten über Wartezeiten erheben können, was in manchen Ländern noch nicht der Fall ist.“
Zu den wichtigsten Konzepten für Behebung und Abbau von Rückstaus gehören:
- die Einstellung von mehr Gesundheitspersonal, namentlich durch mehr Flexibilität in der Anwerbung und Ausbildung, und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, insbesondere durch psychische Betreuung und bessere Bezahlung;
- die Steuerung von Kapazitäten und Produktivität durch Ausdehnung der Öffnungszeiten, Einführung finanzieller Anreize zur Beseitigung von Rückstaus und Ausweitung des Zugangs zu Angeboten der Telemedizin; und
- die Aufwertung von Gesundheitseinrichtungen und Investitionen in primäre Gesundheitsversorgung und gemeindenahe Angebote bei gleichzeitigem Ausbau der häuslichen Pflege und der Rehabilitation.
WHO/Europa arbeitet gegenwärtig zusammen mit Ländern in allen Teilen der Europäischen Region darauf hin, Konzepte zur Bewältigung der durch die COVID-19-Pandemie entstandenen Rückstaus einzuführen. Viele der zum Abbau der Rückstaus benötigten Konzepte werden den Druck auf das bereits überlastete Gesundheitspersonal noch weiter erhöhen. Deshalb müssen sämtliche Bemühungen zum Abbau von Rückstaus mit Maßnahmen zum Schutz der körperlichen und psychischen Gesundheit des Gesundheitspersonals einhergehen.