Erklärung – Schluss mit Lippenbekenntnissen: Es ist Zeit für politischen Mut zum Schutz von Gesundheit und Würde aller Überlebenden

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, anlässlich der Präsentation des neuen Berichts von WHO/Europa über Gewalt gegen Frauen und Mädchen

20 November 2025
Statement
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Madrid, 20. November 2025

Guten Morgen an Sie alle – hier im Saal und online. Zunächst einmal möchte ich dem spanischen Gesundheitsministerium – und meiner lieben Freundin, Frau Ministerin Garcia – dafür danken, dass Sie als Gastgeberin für die Präsentation dieses so wichtigen Berichts fungieren. 

Wir sind heute hier, um eine schmerzliche, aber notwendige Wahrheit auszusprechen: Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der Europäischen Region hat ein krisenhaftes Ausmaß erreicht.

Aus dem neuen Bericht von WHO/Europa geht hervor, dass fast jede dritte Frau und jedes dritte Mädchen ab 15 Jahren im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Es handelt sich hier nicht nur um eine Frage der Gerechtigkeit oder der sozialen Sicherheit, sondern um eine tiefgreifende und systemische gesundheitliche Notlage, die eine unverzügliche und wirksame Antwort der Gesundheitspolitik erfordert.

Für Millionen von Überlebenden ist das Gesundheitssystem die erste und oft auch einzige Anlaufstelle, an die sie sich wenden. Doch hier offenbaren unsere Daten ein verheerendes Versagen: Fast ein Drittel der Überlebenden wird vom Gesundheitswesen im Stich gelassen. Politische Zusagen zum Schutz von Gesundheit und Wohlbefinden von Frauen und Mädchen werden einfach nicht in sichere, leicht zugängliche und lebensrettende Angebote vor Ort umgesetzt. Die Gesundheitssysteme lassen die Überlebenden im Moment ihrer größten Verletzlichkeit im Stich.

Wir schaffen es nicht, das von der WHO empfohlene zeitnahe Leistungspaket anzubieten. 

Werfen wir einen Blick auf die Politik unserer 53 Mitgliedstaaten:
  • nur 13 % bieten einen sicheren Schwangerschaftsabbruch an;
  • nur 32 % bieten Notfallverhütung an;
  • nur 32 % bieten eine HIV-Postexpositionsprophylaxe an;
  • nur 38 % bieten eine Beurteilung der psychischen Gesundheit an.
Diese Leistungen sind kein Luxus, sondern eine grundlegende und eilige medizinische Notwendigkeit nach Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen. Wo sie fehlen, haben Politiker und andere Verantwortliche eindeutig versagt.

Noch schlimmer: fast ein Drittel der Länder verpflichtet immer noch Mitarbeiter des Gesundheitswesens dazu, häusliche Gewalt oder Gewalt durch Intimpartner sogar gegen den Wunsch der erwachsenen Überlebenden der Polizei zu melden. Die WHO rät dringend von dieser Praxis ab. Sie stellt einen Verstoß gegen die Vertraulichkeit und gegen die Selbstbestimmung der Überlebenden dar und hält Frauen und Mädchen aktiv davon ab, die Hilfe zu suchen, die sie so dringend benötigen. Das muss ein Ende haben.

Und hier sehen wir einen Hoffnungsschimmer: 75 % der Länder verfügen über Konzepte zur Schulung von Gesundheitsfachkräften, und zwei Drittel bieten eine grundlegende, mitfühlende und vorurteilsfreie Erstbetreuung an. Allerdings werden diese Fortschritte durch den Mangel an klinischen Ressourcen sowie fehlenden politischen Mut, das gesamte Paket einzuführen, untergraben.

Wir wissen es, wenn Überlebende wegen gewaltbedingter Gesundheitsprobleme Leistungen in Anspruch nehmen, auch wenn sie es dem Gesundheitspersonal nicht mitteilen. Deshalb ist es so wichtig, dass das Gesundheitspersonal auf allen Ebenen des Gesundheitssystems etwas über die verschiedenen Formen von Gewalt und ihre gesundheitlichen Auswirkungen lernt und weiß, wie man vorurteilsfrei reagiert. Allein die Tatsache, dass eine vertrauenswürdige medizinische Fachkraft sagt: „Ich glaube dir und ich bin hier, um dir zu helfen“, kann einen großen Beitrag zum Heilungsprozess leisten.

Ich möchte Spanien zu seinem umfassenden, koordinierten Ansatz zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen beglückwünschen. Er enthält klare klinische Leitlinien für das Gesundheitspersonal zum Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen und bezieht gleichzeitig die Gewaltprävention in das Herz der Gesundheitspolitik ein. Spanien zeigt, wie Gesundheits-, Justiz- und Sozialsysteme zusammen darauf hinarbeiten können, eine auf die Überlebenden ausgerichtete Betreuung zu gewährleisten.

Meine Botschaft an unsere Mitgliedstaaten lautet: Schluss mit Lippenbekenntnissen. Die Zeit für Debatten ist vorbei; wir fordern sofortiges Handeln, um Leben zu retten und die Würde wiederherzustellen, und zwar in drei Bereichen:
  1. Umgehende Genehmigung des gesamten Pakets unentbehrlicher Leistungen: Dies bedeutet, dass die nationale Gesundheitspolitik ausdrücklich die Bereitstellung des gesamten von der WHO empfohlenen Versorgungspakets vorschreibt, insbesondere zeitnahe Angebote nach einer Vergewaltigung und den Zugang zu Notfallverhütung und zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen.
  2. Beseitigung aller Hindernissen für die Versorgung und Betreuung: Am dringlichsten ist die Abschaffung der Meldepflicht, denn sie verstößt gegen das Einverständnis und die Selbstbestimmung der Überlebenden. Stattdessen benötigen sie Hilfe beim Zugang zu lebenswichtigen Angeboten, die möglicherweise außerhalb des Gesundheitswesens zu finden sind, oder konkrete Unterstützung, wenn sie Anzeige erstatten wollen. 
  3. Investitionen in die Umsetzung: Dies betrifft die Mobilisierung von Ressourcen, damit mehr als die Hälfte unserer Länder, in denen noch manche unentbehrliche Gesundheitsangebote fehlen, diese unverzüglich einführen.
Heute früh hat uns eine Überlebende daran erinnert, wie ein auf Würde begründetes Gesundheitssystem aussieht. Sie sprach von dem Recht, sicher zu sein, eine Stimme und eine Wahl zu haben und im Mittelpunkt des Handelns zu stehen. 

So sieht das System aus, das wir aufbauen müssen. Meine abschließende Botschaft an alle Politiker, alle Gesundheitsminister und alle Beschäftigten im Gesundheitswesen ist klar: Wir können der Krise der öffentlichen Gesundheit infolge geschlechtsspezifischer Gewalt nicht länger tatenlos zusehen 

Wir haben das Wissen, wir haben die Normen, und jetzt müssen wir den Mut aufbringen, die Zusagen in gut finanzierte Maßnahmen umzusetzen und das Gesundheitswesen zu dem Ersthelfer zu machen, den jede Überlebende verdient.

Ich danke Ihnen.