Gesundheitswesen versagt bei knapp einem Drittel der Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt in der Europäischen Region

Neuer Bericht von WHO/Europa belegt, dass unentbehrliche Leistungen für Frauen und Mädchen weit hinter den Erwartungen zurückbleiben

20 November 2025
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Madrid, den 20. November 2025

Die Reaktion des Gesundheitswesens auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist in hohem Maße unzureichend, sodass Millionen von Überlebenden keinen Zugang zu lebensrettender und zeitnaher medizinischer Versorgung und psychologischer Betreuung erhalten. So lautet das eindeutige Ergebnis eines bahnbrechenden neuen Berichts von WHO/Europa. 

Der auf einer hochrangigen Veranstaltung des spanischen Gesundheitsministeriums in Madrid vorgestellte Bericht mit dem Titel „Fürsorge, Mut, Wandel: Führungsrolle des Gesundheitswesens bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ verdeutlicht, dass in der Europäischen Region der WHO 28,6 % der Frauen und Mädchen ab 15 Jahren im Laufe ihres Lebens körperliche bzw. sexuelle Gewalt erleben – eine erschütternde Zahl. Trotz des krisenhaften Ausmaßes dieser Bedrohung der öffentlichen Gesundheit stellen die Gesundheitssysteme in den meisten Ländern nicht das von der WHO empfohlene Paket unentbehrlicher Leistungen in seiner Gesamtheit bereit.

„Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat krisenhafte Ausmaße erreicht, und für viele Überlebende ist das Gesundheitssystem die erste und einzige Anlaufstelle“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.

„Unsere Daten zeigen, dass politische Zusagen, Gesundheit und Wohlbefinden von Frauen und Mädchen zu schützen und geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden, nicht in eine sichere und leicht zugängliche Versorgung umgesetzt werden. Die Gesundheitssysteme lassen die Überlebenden im Moment ihrer größten Verletzlichkeit im Stich. Die Politik muss über Lippenbekenntnisse hinausgehen und das von der WHO empfohlene Versorgungspaket in seiner Gesamtheit einführen, insbesondere zeitnahe Angebote nach einer Vergewaltigung und den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen“, fügte Dr. Kluge hinzu. 

Wichtigste Erkenntnisse

In dem Bericht wird auf erhebliche Lücken bei unentbehrlichen Gesundheitsangeboten hingewiesen, die den Überlebenden von sexuellen Übergriffen bzw. Gewalt durch Intimpartner unverzüglich zur Verfügung stehen sollten.

Von den 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region:

  • bieten nur 7 (13 %) einen sicheren Schwangerschaftsabbruch an;
  • bieten nur 17 (32 %) Notfallverhütung an;
  • bieten nur 17 (32 %) eine HIV-Postexpositionsprophylaxe an;
  • bieten nur 20 (38 %) eine Prophylaxe gegen sexuell übertragbare Infektionen an;
  • bieten nur 20 (38 %) eine Beurteilung der psychischen Gesundheit an;
  • bieten nur 23 (43 %) Überweisungen an Einrichtungen für psychische Gesundheit an.

Darüber hinaus verpflichtet fast ein Drittel der Länder (32 %) immer noch Mitarbeiter des Gesundheitswesens dazu, häusliche Gewalt oder Gewalt durch Intimpartner ohne die Zustimmung der erwachsenen Überlebenden der Polizei zu melden. Die WHO rät dringend von dieser Praxis ab, da sie die Autonomie der Überlebenden verletzt, die Vertraulichkeit bricht und Frauen nachweislich davon abhält, Hilfe zu suchen.

Der Bericht verweist aber auch auf einige Bereiche, in denen Fortschritte Grund zur Hoffnung geben. So verfügen beispielsweise 75 % der Länder der Europäischen Region über Konzepte, die die Schulung von Gesundheitspersonal für den Umgang mit Gewalt gegen Frauen und Mädchen vorsehen. Dies spiegelt die zunehmende Anerkennung der Rolle des Gesundheitswesens bei der Erkennung, Bekämpfung und Überweisung wider.

Darüber hinaus bieten zwei Drittel der Länder (68 %) inzwischen Erstbetreuung für Überlebende an – eine Mindestanforderung an eine mitfühlende, vorurteilsfreie Versorgung. Allerdings werden diese Fortschritte durch den Mangel an klinischen Ressourcen sowie fehlenden politischen Willen, das gesamte Paket unentbehrlicher Leistungen einzuführen, untergraben.

„Als jemand, der seit vielen Jahren eng mit Überlebenden zusammenarbeitet und selbst überlebt hat, weiß ich, wie wichtig es ist, dass jeder Teil des Gesundheitssystems mit Mitgefühl und Kompetenz reagiert“, sagt Melanie Hyde, die Autorin des Berichts und Fachreferentin für Gleichstellung, Chancengleichheit und Menschenrechte bei WHO/Europa.

Sie fügt hinzu: „Wir wissen es, wenn Überlebende wegen gewaltbedingter Gesundheitsprobleme Leistungen in Anspruch nehmen, auch wenn sie es dem Gesundheitspersonal nicht mitteilen. Deshalb ist es so wichtig, dass das Gesundheitspersonal auf allen Ebenen des Gesundheitssystems etwas über die verschiedenen Formen von Gewalt und ihre gesundheitlichen Auswirkungen lernt und weiß, wie man vorurteilsfrei reagiert. Allein die Tatsache, dass eine vertrauenswürdige medizinische Fachkraft sagt: 'Ich glaube dir und ich bin hier, um dir zu helfen', kann einen großen Beitrag zum Heilungsprozess leisten.“

Sofortiges Handeln erforderlich

WHO/Europa fordert die Mitgliedstaaten auf, unverzüglich folgende drei Maßnahmen zu ergreifen:

  1. Einführung des gesamten Pakets unentbehrlicher Leistungen: Gewährleistung, dass die nationale Gesundheitspolitik ausdrücklich die Bereitstellung des gesamten von der WHO empfohlenen Versorgungspakets vorschreibt, insbesondere zeitnahe Angebote nach einer Vergewaltigung;
  2. Beseitigung von Hindernissen für die Versorgung und Betreuung: Abschaffung von Maßnahmen, die eine auf die Überlebenden ausgerichtete Betreuung untergraben, vor allem Abschaffung pauschaler Meldepflichten, die dem Gesundheitspersonal vorschreiben, ohne Zustimmung erwachsener Überlebender bei der Polizei Anzeige zu erstatten;
  3. Investieren in die Umsetzung: Mobilisierung von Ressourcen, damit mehr als die Hälfte der Länder, die derzeit nicht über das vollständige Paket an unentbehrlichen Gesundheitsleistungen verfügen, diese unverzüglich einführen.

„In Spanien bemühen wir uns, die primäre Gesundheitsversorgung zu einem der Hauptinstrumente für die Erkennung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen und für eine angemessene Behandlung und Betreuung zu machen. Denn die primäre Gesundheitsversorgung ist der Ort, an dem viele Frauen den ersten Kontakt mit dem Gesundheitssystem herstellen“, sagte die spanische Gesundheitsministerin Mónica García.

„Wir verstärken das systematische Screening, die gezielte Schulung von Fachpersonal und die Koordination mit Justiz, Forensik und Sozialwesen. Auf diese Weise garantieren wir eine konsequente und einfühlsame medizinische Versorgung, die auf die Sicherheit und Genesung der Betroffenen ausgerichtet ist.“

„Ein Gesundheitssystem, das sich an unseren Rechten und Bedürfnissen als Frauen und Mädchen orientiert, muss uns allen eine gedeihliche Entwicklung ermöglichen“, sagte eine Überlebende aus dem Vereinigten Königreich, die an der Auftaktveranstaltung in Madrid teilnahm. „Ich glaube, dass ich ein Recht darauf habe, in Sicherheit zu sein, dass mir kein Nachteil daraus erwächst, wenn ich Ihnen erzähle, was mir passiert ist, dass ich als die Person wahrgenommen werde, die am meisten über das Erlebte Bescheid weiß, dass ich eine Stimme und eine Wahl habe, dass ich im Mittelpunkt Ihres Handelns stehe, dass ich gerecht und fair, mit Mitgefühl und Respekt behandelt werde und dass Sie mir über Ihre Entscheidungen Rechenschaft ablegen.“

Dr. Kluges Fazit lautete: „Meine Botschaft an alle Beschäftigten im Gesundheitswesen ist klar: Wir können der Krise der öffentlichen Gesundheit infolge geschlechtsspezifischer Gewalt nicht länger tatenlos zusehen. Die Politik muss nun ihre Zusagen in gut finanzierte Konzepte umsetzen und dafür sorgen, dass jede Frau und jedes Mädchen die lebensnotwendige Versorgung, Würde und Wahlfreiheit erhält. Wir haben das Wissen; jetzt müssen wir den Mut aufbringen, das Gesundheitswesen zu dem Ersthelfer zu machen, den jede Überlebende verdient.“

Der Bericht

In dem neuen Bericht werden insgesamt 241 Maßnahmen aus den 53 Ländern der Europäischen Region analysiert, und es wird ein Fahrplan für das Gesundheitswesen zur Stärkung seiner Rolle innerhalb des ressortübergreifenden Systems der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen erstellt. 

Media Contacts

Bhanu Bhatnagar


WHO/Europe

Ramy Srour

Referent für Öffentlichkeitsarbeit
WHO-Regionalbüro für Europa

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