WHO
© Credits

Erklärung – Winter in der Ukraine: die Gesundheit der Menschen darf nicht in Geiselhaft genommen werden

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

21 November 2022
Statement
Reading time:
Dobri vechir.

Guten Abend aus Kiew.
 
Dieser Winter wird für Millionen von Menschen in der Ukraine lebensbedrohlich werden. 

Die verheerende Energiekrise, die sich verschärfende Notlage im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Menschen, Beschränkungen beim humanitären Zugang und das Risiko von Virusinfektionen werden das ukrainische Gesundheitssystem und die ukrainische Bevölkerung, aber auch den Rest der Welt und dessen Engagement zur Unterstützung der Ukraine in diesem Winter auf eine harte Probe stellen. 

Neben der durch Krieg und Pandemie verursachten Permakrise befindet sich das Land in einer Energiekrise. 

Die Hälfte der Energieinfrastruktur der Ukraine ist entweder beschädigt oder zerstört. Dies hat bereits Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und die Gesundheit der Menschen.

Einfach ausgedrückt, wird es in diesem Winter ums Überleben gehen.

Bislang hat die WHO seit Beginn des Krieges vor 9 Monaten 703 Angriffe auf das Gesundheitssystem bestätigt. Diese stellen einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und die Regeln des Krieges dar. 

Fortgesetzte Angriffe auf die Gesundheits- und Energieinfrastruktur bedeuten, dass Hunderte Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen nicht länger voll funktionsfähig sind – es fehlt an Brennstoff, Wasser und Elektrizität, um die Grundbedürfnisse zu erfüllen.

Entbindungsstationen fehlt es an Brutkästen, Blutbanken fehlt es an Kühlschränken, Intensivstationen fehlt es an Beatmungsgeräten und alle brauchen Energie. 

Die Welt auf diese Situation aufmerksam zu machen, ist der Grund, warum ich zu meinem vierten Besuch in diesem Jahr und nur wenige Tage nach der größten Welle an Raketenangriffen im gesamten Land hierhergekommen bin – um mich mit Beamten, Gesundheitsfachkräften und Patienten zu treffen und dem Gesundheitsministerium, der Regierung und der ukrainischen Bevölkerung der unerschütterlichen Unterstützung der WHO zu versichern. 

Und um den ukrainischen Ärzten, Pflegekräften und anderen Gesundheitsfachkräften, die weiterhin ihren Heldenmut unter Beweis stellen, meinen Dank und Respekt auszusprechen. 

Wir wissen, dass es Hunderttausenden Gebäuden im ganzen Land – darunter Privathäuser, Schulen und Krankenhäuser – an Gasvorräten fehlt, die nicht nur zum Kochen, sondern auch zum Heizen unabdingbar sind. 

Stand jetzt sind 10 Millionen Menschen – ein Viertel der Bevölkerung – ohne Elektrizität. 

Kaltes Wetter kann zum Tode führen. 

Vorhersagen zufolge sollen die Temperaturen in Teilen des Landes auf bis zu -20 ˚C sinken.

Während verzweifelte Familien darum bemüht sind, sich warm zu halten, werden viele gezwungen sein, auf alternative Heizmethoden zurückzugreifen, wie das Verbrennen von Kohle oder Holz oder die Nutzung von dieselbetriebenen Generatoren oder elektrischen Heizgeräten. Diese bergen Gesundheitsrisiken, wie etwa die Exposition gegenüber giftigen Substanzen, die für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schädlich sind, sowie die Gefahr von Verbrennungen und Verletzungen. 

Wir gehen davon aus, dass 2–3 Millionen zusätzliche Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Wärme und Sicherheit verlassen werden. Sie werden mit einzigartigen gesundheitlichen Herausforderungen konfrontiert sein, etwa Atemwegsinfektionen wie COVID-19, Lungenentzündungen und Influenza sowie das ernsthafte Risiko von Diphtherie- und Masernausbrüchen in unzureichend geimpften Bevölkerungsgruppen. 

All dies wird im Hinblick auf die psychische Gesundheit der ukrainischen Bevölkerung seinen Tribut fordern. In dieser Woche sind neun Monate seit Kriegsbeginn vergangen und es sind bereits rund 10 Millionen Menschen durch psychische Gesundheitsstörungen wie akuten Stress, Angststörungen, Depressionen, Substanzmissbrauch und posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) gefährdet. 

Durch die Schulung von Gesundheitsfachkräften in der Bereitstellung von Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung konnte die WHO bislang 1400 Menschen mit schweren psychischen Gesundheitsproblemen in der gesamten Ukraine erreichen.

Für Gesundheitsfachkräfte und die allgemeine Bevölkerung wurden Zehntausende Konsultationen für psychosoziale Unterstützung und zur psychischen Gesundheit abgehalten, u. a. durch mobile Teams für psychische Gesundheit, die direkt in örtliche Gemeinschaften gehen und dort Versorgungleistungen anbieten. All dies wäre unmöglich ohne die unermüdliche Unterstützung der Präsidentengattin, Olena Selenska, der ich ganz herzlich für unser Treffen heute Morgen danken möchte. 

Darüber hinaus habe ich mich mit dem Ministerpräsidenten Denys Schmyhal und dem Gesundheitsminister Viktor Liashko getroffen, mit denen ich die Energieversorgung, Vorbereitungen für den Winter und – was vielleicht am wichtigsten ist – die wichtigsten gesundheitlichen Bedürfnisse sowohl in neu zurückgewonnenen als auch besetzten Gebieten besprochen habe. 

Und dies bringt mich zu meinem nächsten Punkt: dem humanitären Zugang. 

Der Krieg hatte Auswirkungen auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung und auf die Versorgungslinien für die humanitäre Hilfe. Die Ukraine benötigt kontinuierliche Ressourcen, um das Gesundheitssystem durch den Winter und die Zeit danach zu bringen – Punkte, die bei der Ukraine-Konferenz im nächsten Monat in Paris unter Federführung der Präsidenten Macron und Selenskyj ganz oben auf der Tagesordnung stehen werden. 

Ich mache mir große Sorgen um die 17 000 HIV-Patienten in Donezk, denen schon bald lebenswichtige antiretrovirale Medikamente ausgehen könnten, die dafür sorgen, dass sie am Leben bleiben. Ich fordere daher nachdrücklich die Schaffung eines humanitären Gesundheitskorridors in allen neu zurückgewonnenen und besetzten Gebiete. Die WHO und unsere Partner sind bereit, jederzeit kurzfristig Hilfe zu mobilisieren. 

Ich wiederhole noch einmal meine Aufforderung an beide Parteien, den dringend benötigten humanitären Zugang zu ermöglichen, um auf die gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen zu können.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung darf nicht in Geiselhaft genommen werden. 

Abschließend dürfen wir nicht vergessen, dass die Menschen im Winter häufiger virale Atemwegsinfektionen erleiden als in anderen Jahreszeiten. Wie im Rest Europas zirkulieren auch in der Ukraine zahlreiche Untervarianten von Omikron. Doch angesichts der niedrigen Impfraten bei den ersten Impfungen, ganz zu schweigen von Auffrischungsimpfungen, verfügen Millionen von Ukrainern über schwindende oder keinerlei Immunität gegenüber COVID-19. Verbunden mit dem zu erwartenden plötzlichen Anstieg von saisonalen Grippefällen und Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsleistungen könnte dies für gefährdete Menschen in einer Katastrophe enden.

Wir helfen dem ukrainischen Gesundheitssystem bei der Vorbereitung auf den Winter. Dies umfasst etwa Notreparaturen in Gesundheitseinrichtungen und an der Infrastruktur der Wärmeversorgung sowie die Instandhaltung der Energieversorgung. 

Darüber hinaus stellen wir vorgefertigte Strukturen in den neu zurückgewonnenen Gebieten, tragbare Heizgeräte mit Brennstoff, Rettungsdecken, Dieselgeneratoren und Krankenwagen bereit. 

Dem ukrainischen Gesundheitssystem stehen in diesem Krieg die dunkelsten Tage noch bevor. Nachdem es über 700 Angriffe ertragen musste, ist es nun selbst zu einem Opfer der Energiekrise geworden. Es wird von allen Seiten ausgequetscht, letztendlich zulasten der Patienten. 

Kurzfristig müssen wir praktische Lösungen finden, die es Gesundheitsanbietern ermöglichen, ihre Arbeit über den gesamten Winter so gut wie möglich fortzusetzen. Doch dies ist kein Szenario, das auf Dauer aufrechtzuerhalten ist. Dieser Krieg muss enden, bevor das Gesundheitssystem und die Gesundheit der ukrainischen Nation weiter beeinträchtigt werden. 

Dyakuyu. 

Vielen Dank.