Einer von drei Haushalten mit mindestens einer chronisch kranken Person ist nicht in der Lage, Arzneimittel zu beschaffen und medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen
Lemberg, 22. April 2022
Zwei Monate nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine veranschaulicht eine neue Umfrage der WHO die verheerenden Auswirkungen der humanitären Notlage auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Millionen von Zivilisten und die massiven Herausforderungen für das ukrainische Gesundheitswesen.
Nach vorläufigen Ergebnissen einer laufenden landesweiten Bewertung der gesundheitlichen Bedürfnisse, die in Partnerschaft mit Premise durchgeführt wurde, berichtete von den 1000 Haushalten, die bislang an der Umfrage teilgenommen haben, jeder dritte Haushalt (30%) mit mindestens einer chronisch kranken Person über Probleme beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Zudem lässt die Umfrage erkennen, dass in zwei von fünf Haushalten (39%) mindestens eine Person mit einer chronischen Krankheit, etwa einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, Diabetes oder Krebs, lebt.
Weniger als ein Drittel (30%) der Auskunftgebenden nahm in letzter Zeit Gesundheitsleistungen in Anspruch; davon wiederum nannten 39% die Sicherheitslage als Hauptgrund, während 27% auf das vollständige Fehlen einer Gesundheitsversorgung in ihrem Gebiet verwiesen.
Die meisten Teilnehmer der Umfrage (70%) halten sich derzeit in ihrem eigenen Zuhause auf, während 11% bei Freunden und Angehörigen in relativ sicheren Gebieten wohnen, 8% sich innerhalb der Ukraine auf der Flucht befinden und 3% in einer Unterkunft oder einem Lager für Binnenvertriebene untergekommen sind.
„Zwei Monate nach Kriegsbeginn zeigen unsere Erkenntnisse, dass das Gesundheitswesen in der Ukraine dringend weiter unterstützt werden muss“, erklärte Dr. Jarno Habicht, Repräsentant der WHO und Leiter des WHO-Länderbüros in der Ukraine.
„Dank unserer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium, den nationalen Gesundheitseinrichtungen und unseren vielen Partnern und Gebern konnte die WHO in den vergangenen acht Wochen nahezu 650 000 Menschen mit lebensrettenden Hilfsgütern, Geräten und Arzneimitteln versorgen. Allerdings sind wir noch immer nicht in der Lage, einige der am stärksten betroffenen Gebiete im Osten zu erreichen, wo das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen ist. So haben wir Berichte erhalten, dass im Oblast Luhansk fast alle Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser entweder beschädigt oder zerstört sind und dass die Situation in mehreren anderen Gebieten kritisch ist. Wir müssen unbedingt Zugang erlangen, um die gesundheitlichen Bedürfnisse zu ermitteln und lebenswichtige Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete, u. a. nach Mariupol, zu bringen. Die Zivilbevölkerung hat ein Recht auf Gesundheit, auch in Kriegszeiten.“
Das ukrainische Gesundheitssystem steht vor vielfältigen Herausforderungen, und die Situation wird von Tag zu Tag prekärer. Das Risiko von Infektionskrankheiten und zunehmend auch von wasserbedingten Krankheiten ist groß, und Routineimpfungen, darunter auch die Impfung gegen COVID-19, sind wegen des Krieges stark eingeschränkt.
Der Zugang zu Angeboten in den Bereichen reproduktive Gesundheit, Müttergesundheit und vorgeburtliche Versorgung sowie in der psychischen Gesundheitsversorgung ist aufgrund von Sicherheitsbedenken, einer eingeschränkten Mobilität, unterbrochener Versorgungsketten und Massenflucht erheblich beeinträchtigt. Zudem sind die Gesundheitseinrichtungen nach wie vor Angriffen ausgesetzt: Seit dem 24. Februar wurden mehr als 160 Vorfälle bestätigt.
„Als Gesundheitsorganisation der Vereinten Nationen ist die WHO in einer einzigartigen Position, einen Dialog mit allen Parteien zu führen, um auf eine sichere Passage wichtiger medizinischer und gesundheitsrelevanter Hilfsgüter im gesamten Land zu drängen und diese sicherzustellen“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Über unser Regionalbüro und die Länderbüros stehen wir in ständigem Kontakt mit Gesundheitsminister Viktor Liashko und den ukrainischen Gesundheitsbehörden und entwickeln gemeinsam Strategien, um nach Möglichkeit sicherzustellen, dass Gesundheitsfachkräfte und -einrichtungen ihre Arbeit fortsetzen können.“
In enger Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort und dank der Großzügigkeit mehrerer Spender und Geldgeber ist es der WHO gelungen, spezialisierte medizinische Güter und Hilfsgüter für die Notversorgung zu liefern, medizinische Teams in schwer zugängliche Gebiete zu entsenden und dazu beizutragen, dass Unterbrechungen bei wichtigen Leistungen wie HIV-, Tuberkulose- und Diabetes-Behandlungen, Routineimpfungen und psychologischer Unterstützung auf ein Mindestmaß beschränkt werden.
Gemeinsam mit einer Reihe von Partnern hat die WHO in den letzten beiden Monaten:
- 162 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bestätigt (Stand: 21. April);
- 218 Tonnen an medizinischen und sonstigen Hilfsgütern und Geräten in die Ukraine geliefert, von denen 65% (142 Tonnen) ihren Bestimmungsort, hauptsächlich im Osten, Süden und Norden des Landes, erreicht haben, wo der Bedarf am größten ist;
- genügend Hilfsgüter für die Trauma- und Notfallversorgung zur Durchführung von bis zu 15 900 Operationen geliefert;
- genügend Arzneimittel und medizinische Geräte zur Versorgung von 650 000 Menschen geliefert;
- 15 Dieselgeneratoren zur Deckung des Energiebedarfs von Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen geliefert;
- 130 000 COVID-19-Antigen-Schnelltests geliefert (die WHO hatte vor Kriegsbeginn eine weitaus höhere Zahl bereitgehalten);
- 1000 Ampullen Tocilizumab zur Behandlung schwerer und lebensbedrohlicher Fälle von COVID-19 geliefert;
- 20 Krankenwagen zur Übergabe an das Gesundheitsministerium bestellt, die in der kommenden Woche ausgeliefert werden sollen;
- 97 internationale und lokale Partner mit gesundheitsbezogenen Aktivitäten in 24 Oblasten über die Schwerpunktgruppe Gesundheit für die Ukraine zusammengebracht;
- Hilfsgüter für die Trauma- und Notfallversorgung an folgende Oblaste geliefert: Kiew, Tscherkassy, Dnipropetrowsk, Schytomyr, Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Poltawa, Luhansk, Donezk, Cherson, Odessa und Saporischja;
- mehr als 50 medizinische Notfallteams (EMT) in der Ukraine und den Aufnahmeländern von Flüchtlingen unterstützt oder koordiniert, um direkte chirurgische Hilfe und mobile primäre Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge bereitzustellen;
- zweimal pro Woche Schulungsveranstaltungen für die Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten unter Beteiligung von Tausenden von ukrainischen Gesundheitsfachkräften abgehalten, bei denen es um Themen wie ambulante Bluttransfusionen in Konfliktsituationen, traumatische Verletzungen an Gliedmaßen, Notfallversorgung im Pflegebereich und grundlegende Versorgung bei Verbrennungen ging;
- das Zentrum für öffentliche Gesundheit des ukrainischen Gesundheitsministeriums bei der Schätzung des Bedarfs an antiretroviralen Medikamenten in der Ukraine für den Aids-Nothilfeplan des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika (PEPFAR) unterstützt, über den antiretrovirale Medikamente in ausreichender Zahl für eine bis zu zwölfmonatige Behandlung von Menschen mit HIV in der Ukraine finanziert wurden und der bei der Bereitstellung dieser Medikamente mit Partnern vor Ort zusammenarbeitet;
- drei Schaltzentralen für Gesundheit in der Westukraine zur Unterstützung medizinischer Evakuierungen eingerichtet und für eine sichere medizinische Evakuierung von Patienten, darunter Krebskranken, zur Behandlung im Ausland gesorgt;
- vor dem Hintergrund der derzeitigen Lieferstörungen Notfallpläne für medizinischen Sauerstoff aufgestellt.
Bis zum 21. April hatte die WHO von den 45 Mio. US-$, um die sie in ihrem Spendenappell zur Finanzierung ihrer Nothilfe von März bis Mai gebeten hatte, 26,3 Mio. US-$ (58%) erhalten. Weitere 18 Mio. US-$ wurden zugesagt. Mit diesen Mitteln ermöglicht die WHO 6 Mio. Menschen eine Gesundheitsversorgung.
„Die WHO ist den Regierungen, Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, die zu unserem Nothilfeappell für die Ukraine beitragen, dankbar. Wir danken Irland, Japan, Kanada, Norwegen, der Schweiz, der Novo-Nordisk-Stiftung, der Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe sowie dem Zentralen Fonds der Vereinten Nationen für die Reaktion auf Notsituationen für ihre zeitnahen Beiträge“, erklärte Dr. Habicht. „Eine flexible Finanzierung ist nach wie vor entscheidend dafür, dass die WHO schnellstmöglich lebensrettende Hilfe dort leisten kann, wo sie am meisten benötigt wird.“
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden infolge der russischen Invasion bislang mehr als 12 Mio. Menschen gewaltsam vertrieben: 7,1 Mio. Menschen sind Binnenvertriebene in der Ukraine, und mehr als 5 Mio. sind außerhalb der Landesgrenzen auf der Flucht. Weitere 2,9 Mio. erwägen, ihre Heimat wegen des Krieges zu verlassen.
„Die Bewältigung der gesundheitlichen Folgen des Krieges in der Ukraine und ihren Nachbarländern hat für mich nach wie vor oberste Priorität“, erläuterte Dr. Kluge. „Bei meinem jüngsten Besuch in der Ukraine anlässlich des Weltgesundheitstags war ich tief beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit der Gesundheitsfachkräfte, denen ich begegnete und die trotz der schwierigen Umstände weitaus mehr als nur ihre Pflicht leisten, um Patienten zu behandeln und ihren Gemeinschaften zu dienen. Auch das Gesundheitsministerium habe ich für seine Bemühungen gelobt.“
Dr. Kluge fügte hinzu: „WHO/Europa ist entschlossen, die Ukraine jetzt und in Zukunft zu unterstützen. Parallel zu unserer Reaktion auf den unmittelbaren humanitären Bedarf müssen wir auch die Beseitigung der Kriegsfolgen und den Wiederaufbau planen. Die Herausforderungen sind gewaltig, doch wird die WHO auf dem gesamten Weg mit den nationalen Behörden und ihren Partnern zusammenarbeiten, um Gesundheit und Wohlbefinden für alle anzustreben.“
Bhanu Bhatnagar (he/him)
Sprecher/Medienbeauftragter für den Einsatz in der Ukraine
WHO-Regionalbüro für Europa
Mobiltel.: +380 93 612 4170
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Der Inhalt dieses Artikels wurde am 4. Mai 2022 geändert, da in einer früheren Fassung eine falsche Formel zur Berechnung der Reichweite der Traumatologischen und notfallmedizinischen Chirurgie-Kits der WHO (TESK) und der Interinstitutionellen medizinischen Notfall-Kits (IEHK) verwendet wurde. Die korrekten Berechnungen und Zahlen sind nachstehend aufgeführt.
Mit Stand vom 4. Mai 2022 hatte die WHO 2385 individuelle TESK-Module geliefert, was etwa 159 kompletten TESK entspricht.
Jedes TESK ist für 50 chirurgisch zu versorgende Patienten in Notfallsituationen bestimmt, wobei zwei chirurgische Eingriffe pro Einlieferung zugrunde gelegt werden. Die bisher gelieferten TESK könnten also je nach chirurgischer Komplexität 7950 bis 15 900 mögliche Eingriffe ermöglichen.
Mit Stand vom 4. Mai 2022 hatte die WHO 785 individuelle IEHK-Module geliefert, was etwa 65 kompletten IEHK entspricht.
Jedes komplette IEHK soll die medizinische Grundversorgung von 10 000 Personen drei Monate lang gewährleisten und beinhaltet grundlegende Medikamente, Ausrüstung und medizinische Gebrauchsgegenstände. Somit könnten mit den bisher gelieferten IEHK insgesamt 650 000 Menschen drei Monate lang versorgt werden.