„Ich hätte die Behandlung lieber abgebrochen, als von meiner Tochter getrennt zu sein“

22 September 2023
News release
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Ein neues Projekt verbessert die Behandlungsergebnisse für ukrainische Flüchtlinge in Polen, die wegen Tuberkulose behandelt werden.


Die 27-jährige Maryna wusste nur zu gut, dass Tuberkulose etwas Ernstes ist. Sie arbeitete in der Gerichtsmedizin in Dnipro (Ukraine) und war regelmäßig an der Obduktion von Tuberkulosepatienten beteiligt. Die Ukraine hat mit 73 Fällen pro 100 000 Einwohner die zweithöchste Tuberkulosebelastung in der Europäischen Region der WHO.

Maryna erkannte, dass es ihr nicht gut ging, als die Ukraine unter einem strengen COVID-19-Lockdown stand, sodass es länger dauerte, bis sie eine bestätigte Diagnose erhielt.

Nachdem Röntgenaufnahmen eine erhebliche Menge Flüssigkeit in der Lunge gezeigt hatten, wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert und von ihrer kleinen Tochter getrennt, die gerade eingeschult worden war. Ihre Tochter fehlte ihr, und dies bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit, die Behandlung abzuschließen.

„Ich habe meinem Mann gesagt, dass ich, egal was passiert, überleben muss – für unsere Tochter “, sagte sie. „Ich musste wieder zu Kräften kommen und gesund werden.“

Neue Arzneimittel

Maryna begann mit der Behandlung, aber ihr Gesundheitszustand besserte sich nicht. Nach mehrmonatiger Behandlung wurde bei ihr schließlich eine medikamentenresistente Tuberkulose (DR-Tb) diagnostiziert.

DR-Tb ist definiert als resistent gegen mindestens ein Antituberkulotikum. Multiresistente Tuberkulose (MDR-Tb) und extensiv resistente Tuberkulose (XDR-Tb) sprechen noch weniger auf Behandlung an. In der Europäischen Region ist die Arzneimittelresistenz ein großes Hindernis für die Eliminierung der Tuberkulose – 22 % aller MDR-Tb-Patienten weltweit leben in der Europäischen Region. In den letzten Jahren wurden wirksamere Behandlungsmethoden für DR-Tb eingeführt, aber die Medikamente können sehr teuer sein. Aufgrund ihrer hohen Tuberkulosebelastung gehört die Ukraine zu den Ländern, in denen die von der WHO empfohlenen neuen Medikamente weithin verfügbar sind.

Maryna wurde in ein Krankenhaus in Poltawa eingeliefert, wo sie drei Monate lang blieb. Obwohl sie jeden Tag mit ihrer Tochter sprach, empfanden beide die räumliche Trennung als sehr problematisch.

Videogestützte Behandlung

Glücklicherweise verbesserte sich Marynas Zustand schnell, sobald sie die richtigen Medikamente gegen DR-Tb erhielt. Als die Tests ergaben, dass sie nicht mehr infektiös war, konnte sie zu ihrer Familie nach Dnipro zurückkehren und ihre Behandlung ambulant fortsetzen.

„Ich war überglücklich, endlich wieder bei meiner Tochter sein zu können“, sagte Maryna. „Als ich nach Hause kam, wusste ich genau, was ich tun musste, um ambulant behandelt zu werden. Ich hatte die Medikamente für einen Monat dabei. Ich hatte täglich eine videogestützte Behandlung, bei der ich meine Medikamente im Beisein des Arztes einnahm und alle Probleme besprach. Ich reichte meine Berichte ordnungsgemäß ein und wusste, dass ich einmal pro Monat ins Krankenhaus in Poltawa fahren musste, um mich untersuchen zu lassen und meine Medikamente abzuholen.“

Doch am 24. Februar 2022 wurde Marynas Leben auf den Kopf gestellt, als der Krieg eskalierte. Die Fahrt zu ihrem Termin im Krankenhaus war angesichts blockierter Straßen, Raketenangriffen und des Ausfalls öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr möglich.

Auf der Flucht vor dem Krieg

Maryna setzte ihre ambulante Behandlung mit den ihr zur Verfügung stehenden Medikamenten fort und informierte ihren Arzt regelmäßig. Doch als sich die Situation verschlechterte und sie sah, welche Wirkung die Raketenangriffe auf ihre Tochter hatten, fasste sie den Entschluss, nach Polen zu fliehen und ihren Mann zurückzulassen. Sie konnte nur einen Zwei-Monats-Vorrat an Tuberkulosemedikamenten mitnehmen. Als Medizinerin wusste Maryna, dass eine Unterbrechung der Tuberkulosebehandlung tödlich sein kann.

In Polen angekommen machte Maryna angesichts zur Neige gehender Medikamentenvorräte die Gesundheitsbehörden auf ihre Situation aufmerksam und beantragte einen routinemäßigen Tuberkulosetest für ihre Tochter. Als man ihr sagte, dass sie und ihre Tochter getrennt ins Krankenhaus gehen müssten, war sie zuerst am Boden zerstört.

„Mein Mann ist Polizist und kann das Land nicht verlassen, also bin ich, seit ich in Polen bin, alleinerziehend“, sagt sie. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, durften wir auf keinen Fall voneinander getrennt werden. Ich hätte die Behandlung lieber abgebrochen, als von meiner Tochter getrennt zu sein.“

Versorgung von Flüchtlingen mit Tuberkulose

Mit Blick auf Flüchtlinge wie Maryna haben Ärzte ohne Grenzen (MSF) und die polnische Regierung Maßnahmen ergriffen, um ankommende Tuberkulosepatienten besser versorgen zu können. In Zusammenarbeit mit der WHO wurden die Richtlinien für die Behandlung aktualisiert, sodass ein Krankenhausaufenthalt nicht mehr erforderlich ist. Die WHO bemühte sich zusammen mit der polnischen Regierung  um Beschaffung von Tuberkulosemedikamenten, die zuvor in Polen nicht erhältlich waren, und spendete 100 komplette Anwendungen von Medikamenten gegen DR-Tb.

Maryna nahm an dem Pilotprojekt teil, und ihr Facharzt für Tuberkulose in der Ukraine bestätigte, dass sie ihre Medikamente regelmäßig eingenommen hatte und die Kriterien für eine ambulante Behandlung erfüllte. Mit praktischer Unterstützung von Katya, einer Koordinatorin von MSF, wurde Maryna an einen hilfsbereiten polnischen Arzt verwiesen und erhielt die benötigten Medikamente. Sie konnte bei ihrer Tochter bleiben und ihre ambulante Behandlung erfolgreich abschließen.

Inzwischen ist Maryna geheilt. Sie hat in Polen Arbeit gefunden und hofft, wieder mit ihrem Mann zusammensein zu können, sobald sich die Situation verbessert. Sie setzt sich für die Fernbehandlung von Tuberkulose ein und hat Ratschläge für neue Patienten.
„Gib nicht auf“, sagt sie. „Gesund zu sein ist immer besser als krank zu sein, zumal diese Krankheit zum Tod führen kann. Ich habe die Behandlung zu Ende gebracht, weil ich wusste, dass meine Tochter mich braucht. Es war die einzige Möglichkeit.“