Unsere Gesellschaften versagen darin, unsere Kinder vor der aggressiven Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten zu schützen, die ihre Gesundheit beeinträchtigen können. Zu diesem Ergebnis kommt ein neuer Bericht von WHO und UNICEF mit dem Titel „Wie die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten unsere Entscheidungen über die Ernährung von Säuglingen beeinflusst“.
Demnach fördert die Säuglingsnahrungsindustrie weltweit mit enormen Werbeetats und unter bewusster Verzerrung wissenschaftlicher Fakten den übermäßigen Verbrauch von Ersatzprodukten und hält Frauen vom Stillen ab, indem sie den instinktiven Wunsch von Eltern, das Beste für ihr Kind zu tun, gezielt ausnutzt.
Die Ergebnisse dieser Publikation, der größten Studie ihrer Art, stützen sich auf die Erfahrungen von über 8500 schwangeren Frauen und Müttern von Kleinkindern sowie 300 Gesundheitsfachkräften in acht Ländern.
Eine Vermarktung, die die Menschenrechte von Mutter und Kind verletzt
Doch die Verkaufsförderungsstrategien sind nicht auf die diversen Medien und sozialen Netzwerke beschränkt. So gaben mehr als ein Drittel der befragten Frauen an, die Ersatzprodukte seien ihnen vom Gesundheitspersonal empfohlen worden. Dies deutet darauf hin, dass die Säuglingsnahrungsindustrie aus kommerziellem Interesse aktiv auf das Gesundheitswesen einwirkt und nachweislich gesundheitsfördernde Praktiken bewusst ignoriert.
Stillen sorgt nicht nur für optimale Bedingungen für Wachstum und Entwicklung, sondern senkt auch das Risiko von Kindern, im späteren Leben an Adipositas oder anderen nichtübertragbaren Krankheiten zu erkranken. Die WHO empfiehlt das ausschließliche Stillen von Säuglingen während der ersten sechs Lebensmonate und eine Fortsetzung des Stillens (bei angemessener Zufütterung) bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahrs oder darüber hinaus.
Weltweit werden nur 44% aller Säuglinge unter sechs Monaten ausschließlich gestillt. Aus dem Bericht des WHO-Hauptbüros geht hervor, dass weltweit die Stillraten in den vergangenen beiden Jahrzehnten nur geringfügig gestiegen sind, während der Absatz von Muttermilchersatzprodukten sich in etwa demselben Zeitraum mehr als verdoppelt hat. Wenn die Hersteller von Folgemilchprodukten mit Werbung Mütter dazu zu bewegen versuchen, das Stillen aufzugeben und auf minderwertige und kostspielige Ersatzprodukte zurückzugreifen, verletzen sie damit die Menschenrechte von Müttern wie auch Kindern.
Schutz der gefährdetsten Gruppen in der Europäischen Region der WHO
Vor allem in der Europäischen Region der WHO ist die aggressive Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten besorgniserregend. Europa hat von allen Regionen der WHO die niedrigsten Raten ausschließlichen Stillens.
Nach den neuen Daten der WHO sind im Vereinigten Königreich 84% aller Schwangeren und entbundenen Frauen Werbung für Folgemilch ausgesetzt.
Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat das Europäische Büro der WHO für die Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten ein neues, auf die Europäische Region zugeschnittenes Kurzdossier mit dem Titel „Wirksame Regulierungsrahmen zur Beendigung der unangemessenen Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten und Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder in der Europäischen Region der WHO“ veröffentlicht.
Dieses beinhaltet einen Schritt-für-Schritt-Leitfaden sowie nützliche Instrumente für die Mitgliedstaaten bei der Schaffung bzw. Änderung ihrer Rechtssysteme zum Schutz von Eltern und Betreuern vor allen Formen von Werbung für Muttermilchersatz und vor der unangemessenen Vermarktung von Lebensmitteln für Kleinkinder. Es enthält auch ein speziell für die Europäische Region entwickeltes Modellgesetz, das demonstrieren soll, wie eine wirksame Regulierung aussehen muss, und das den Ländern bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung sowie der Ziele des Europäischen Arbeitsprogramms 2020–2025 behilflich sein soll, dessen Motto „Gemeinsam für mehr Gesundheit in Europa“ lautet.
Der Leitfaden der WHO basiert auf folgenden sechs Empfehlungen:
- Förderung einer optimalen Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern.
- Verbot jeglicher Werbung für Produkte, die als Muttermilchersatz dienen.
- Entwicklung und Anwendung von Normen für Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder.
- Festlegung angemessener, zur Vermarktung von Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder zulässiger Werbebotschaften und Verbot unangemessener Botschaften.
- Verbot von Gegenseitigkeitswerbung für Muttermilchersatzprodukte bei der Vermarktung von Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder.
- Beseitigung von Interessenkonflikten im Gesundheitssystem.
Das Fachzentrum für nichtübertragbare Krankheiten passt derzeit sein CLICK-Protokoll so an, dass es in mehreren Ländern der Europäischen Region Daten von Müttern über ihre Exposition gegenüber digitaler Werbung für kommerzielle Säuglingsnahrung sammelt.