Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa (Athen, 22. Juli 2021)
Exzellenzen,
sehr geehrter Herr Mitsotakis, Ministerpräsident Griechenlands,
sehr geehrter Herr Kaklamanis, Erster Vizepräsident des Parlaments der Hellenischen Republik,
sehr geehrter Herr Schinas, Vizepräsident der Europäischen Kommission,
sehr geehrter Herr Minister Kikilias, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren Gesundheitsminister, sehr geehrte Frau Messimeri, sehr geehrter Vertreter Seiner Seligkeit, liebe Freunde, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
„Κάθε νόσος ξεκινά από την ψυχή“ – „Jede Krankheit beginnt in der Seele“, sagte Hippocrates vor 2500 Jahren.
Der Vater der Medizin war der erste, der der Welt einen ganzheitlichen Gesundheitsansatz gab, indem er die wichtige Verknüpfung zwischen Körper und Seele hervorhob. Diesen Ansatz machte sich auch die Weltgesundheitsorganisation bei ihrer Gründung im Jahr 1948 zu eigen, als sie in ihrer Satzung Gesundheit folgendermaßen definierte: Ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.
Die COVID-19-Pandemie war in der Europäischen Region der WHO für mehr als 1,2 Mio. registrierte Todesfälle verantwortlich und hat zahllose Existenzen zerstört, Familien und Gemeinschaften auseinandergerissen, Unternehmen in den Konkurs getrieben und Menschen ihrer Chancen beraubt, kurz: sie hat uns alle erschüttert. Sie hat unser Leben und unsere körperliche wie psychische Gesundheit beeinträchtigt. Unsere “Psyche“ wurde hart getroffen, und damit unsere Seele und unser Verstand, unsere tiefsten Gefühle, Emotionen, Gedanken, Einstellungen und Beziehungen. Diese „Psyche“, die Hippocrates zum Epizentrum menschlichen Wohlbefindens erklärt hat, steht im Mittelpunkt unserer Beratungen in den kommenden beiden Tagen. Unser Ziel lautet, die „Psychen“ von fast einer Billion Menschen in den 53 Ländern, für die WHO/Europa zuständig ist, zu schützen und die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Behebung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit und die Psychiatriesysteme notwendig sind, um in diesen harten Zeiten gerüstet zu sein, auch für ähnliche Katastrophenereignisse in Zukunft.
Ereignisse, die uns bis in die Grundfesten erschüttern, haben weitreichende Auswirkungen und verändern uns alle. Zu diesen im Gang befindlichen Veränderungen gehört die allgemeine Wahrnehmung von psychischer Gesundheit und ihrer Bedeutung – eine Frage, die nun aufgrund von COVID-19 oberste Priorität erlangt hat.
Diese Pandemie bietet eine Chance, das Leistungsangebot zu überdenken, die zutage getretenen Brüche in der Gesellschaft zu heilen und die Klüfte zu überbrücken, die sich ausgeweitet haben. Dies ist eine Chance, die sich kein Land entgehen lassen darf – und heute ist ein Wendepunkt in unseren Bemühungen.
Auf Einladung der Hellenischen Republik sind wir heute hier zusammengekommen, um darüber zu diskutieren, wie wir die Folgen von COVID-19 für die psychische Gesundheit und die Leistungserbringung in der Europäischen Region der WHO am besten bewältigen können.
Ich freue mich sehr, dass wir diese Konferenz in Athen abhalten können, nach Abschluss der gemeinsamen schnellen Bestandsaufnahme im Bereich der psychischen Gesundheit, die die WHO zusammen mit dem griechischen Gesundheitsministerium durchgeführt hat. Daraus ging eine Reihe von Empfehlungen hervor, die hier in Griechenland bald in dem Nationalen Aktionsplan für psychische Gesundheit Gestalt annehmen und den übrigen Ländern in der Europäischen Region der WHO als Vorbild dienen werden. Für mich ist dies ein großartiges Beispiel dafür, wie wir die durch diese Pandemie eröffnete Chance optimal nutzen können, um für sinnvolle Reformen im Bereich der psychischen Gesundheit zu werben, und deshalb möchte ich mich persönlich beim Ministerpräsidenten Griechenlands, Herrn Mitsotakis, bei Gesundheitsminister Dr. Vasilis Kikilias und bei der speziell für den Bereich der psychischen Gesundheit zuständigen Stellvertretenden Ministerin Zoe Rapti dafür bedanken, dass sie es nicht zugelassen haben, dass die Pandemie Ihren reformorientierten Ansatz in der psychischen Gesundheitsversorgung zunichte macht, und dass sie die psychische Gesundheit auch während und nach der Pandemie als hohe politische Priorität beibehalten wollen.
Schon während meines Wahlkampfs um den Posten des Regionaldirektors für Europa – also vor der Pandemie – hatte ich die psychische Gesundheit als eine Priorität erkannt. Daher ist ihr im Europäischen Arbeitsprogramm, das vom Regionalkomitee vor einem Jahr angenommen wurde, eine Flaggschiff-Initiative gewidmet.
Damals habe ich allen 53 Mitgliedstaaten aufmerksam zugehört und die Bedeutung der psychischen Gesundheit aus einer Vielzahl von Gründen erkannt. Ein entscheidender Grund ist, dass die durch psychische Probleme verursachten Herausforderungen der stärkste Einflussfaktor in Bezug auf Behinderungen in unserer Region sind. Jeden Tag sind Millionen Menschen aufgrund ihrer psychischen Gesundheitsprobleme Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt. Doch die Reformen bei den Leistungsangeboten verlaufen viel zu schleppend und sind zu sporadisch, und auch die Qualität der Versorgung ist oftmals unzureichend.
Dies wirft zwei grundsätzliche Fragen auf:
Erstens: Wenn dies so offensichtlich ist, warum ist es uns dann noch nicht gelungen, die gewünschten Veränderungen herbeizuführen?
Und zweitens: Was müssen wir jetzt anders machen?
Um das Ausmaß der Folgen von COVID-19 auf die psychische Gesundheit zu ermessen, hat WHO/Europa einen fachlichen Beirat eingesetzt, der aus Fachleuten und Fürsprechern aus der gesamten Europäischen Region besteht. Die Fülle der vorliegenden Erkenntnisse und die Komplexität ihrer Empfehlungen bilden die Grundlage für unsere Arbeit in den nächsten beiden Tagen.
Das Bündnis für psychische Gesundheit, das im September zusammen mit Königin Mathilde der Belgier eingeweiht werden soll, ist ein weiteres wichtiges Vehikel zur Herbeiführung von Veränderungen. Das Bündnis strebt folgende Ziele an:
- Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung;
- Aufbau gemeindenaher und gut zugänglicher fachübergreifender Leistungsangebote im Bereich der psychischen Gesundheit;
- Neuaufstellung der primären Gesundheitsversorgung;
- Stärkung der Investitionen für ein zwecktaugliches Personal im Bereich der psychischen Gesundheit;
- Ansetzen an den strukturellen und umweltbedingten Determinanten psychischer Gesundheitsprobleme.
Hier dürfen wir die Bedeutung der Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung nicht unterschätzen. Deshalb möchte ich nochmals der Regierung Griechenlands meinen Dank dafür aussprechen, dass sie uns durch die Eröffnung des Büros Athen der WHO für Versorgungsqualität die einzigartige Chance gegeben hat, allen Ländern zu helfen. Wir haben uns sehr ehrgeizige Ziele gesetzt. Die WHO wird auf ihre vielseitigen fachlichen Partner setzen, die sich als Fürsprecher und Vorkämpfer für die psychische Gesundheit in der Europäische Region bewährt haben: Partner wie Sie alle, die Sie heute hier mit uns zusammengekommen sind, ob persönlich oder virtuell. Doch wir wollen auch jene an Bord holen, die sich nie darüber im Klaren waren, dass auch sie einen Beitrag leisten können und sollten: Arbeitgeber, Gewerkschaften, Kultur- und Sportorganisationen, Akteure, die noch nicht optimal eingebunden sind, die aber noch viel beitragen können.
Allein die Tatsache, dass heute so viele gesundheitspolitische Führungspersönlichkeiten aus der Europäischen Region versammelt sind – darunter der Vizepräsident der Europäischen Kommission, eine Regionaldirektorin des UNICEF und die OECD –, gibt mir Hoffnung und zeugt von einer Entschlossenheit, die durch Handeln und Investitionen untermauert wird. Ihrer aller Anwesenheit – und die Erfahrung, der Sachverstand, die Führungskompetenz und die Ressourcen, die Sie mitbringen, um Handlungskonzepte und Gesetze auszuarbeiten, Maßnahmen zu veranlassen und in bessere Leistungen zu investieren signalisiert einen Gezeitenwechsel.
Heute führen wir eine Bestandsaufnahme durch und schaffen eine Gelegenheit für Gesellschaften, die sich zunehmend der Bedeutung der psychischen Gesundheit und des seelischen Wohlbefindens bewusst werden. Wir sind uns darüber im Klaren, wie wichtig es ist, Widerstandsfähigkeit zu fördern, uns auf künftige gesundheitliche Notlagen vorzubereiten und für die Zukunft unserer Kinder vorzusorgen.
Psychische Gesundheit und seelisches Wohlbefinden müssen als ein grundlegendes Menschenrecht erkannt werden, als ein Kampf, bei dem wir, wenn wir ihn gewinnen, alle zu Gewinnern werden. Denn wir mildern nicht nur die Folgen von COVID-19, sondern tragen auch zur Wiederbelebung der Wirtschaft und zur Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung sowie der Ziele für nachhaltige Entwicklung bei.
Als führende Gesundheitspolitiker tragen wir die Verantwortung. Ich vertraue darauf, dass Ihre Teilnahme heute ein Ausdruck einer langfristigen Entschlossenheit ist, über Lippenbekenntnisse hinauszugehen – und diese einzigartige Gelegenheit zur Verbesserung zu ergreifen. Das sind wir uns schuldig, und vor allem sind wir es den Menschen schuldig, denen wir dienen.
Ich bedanke mich bei unseren Gastgebern, der griechischen Regierung und speziell dem Gesundheitsministerium, dafür, dass sie so energisch für die psychische Gesundheit in der Europäischen Region eintreten.
Denn auch wenn es das Richtige ist, so gehört doch noch viel Mut und Stehvermögen dazu, der psychischen Gesundheit stets einen hohen Stellenwert auf der Reformagenda zu sichern, und zwar vor, während und nach der Pandemie. Ich möchte Sie nun alle bitten, Gleiches zu tun und im Laufe des Vormittags der Erklärung des Athener Gipfels zuzustimmen, die Ihnen in der eröffnenden Plenarsitzung präsentiert wird, um der psychischen Gesundheit Profil zu verleihen und in reformierte, hochwertige, gemeindenahe und gut zugängliche Leistungen zu investieren. Ich appelliere dringend an Sie, dieser Herausforderung gerecht zu werden, Ihre Netzwerke zu mobilisieren und mit dem Aufbau der Zukunft, die wir anstreben, zu beginnen.
Ich danke Ihnen.