Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 24. Januar 2022
Heute, am zweiten Jahrestag des Beginns der COVID-19-Pandemie in Europa und Zentralasien, treten wir in eine neue Phase ein, in der die extrem leicht übertragbare Omikron-Variante die gesamte Europäische Region, von West nach Ost, überrollt.
Omikron ersetzt die Delta-Variante mit beispielloser Geschwindigkeit. Weniger als zwei Monate seit seiner Entdeckung in Südafrika macht diese Variante inzwischen 31,8% aller Fälle in der Europäischen Region aus; vergangene Woche waren es noch 15% und die Woche zuvor nur 6,3%.
Die Pandemie ist noch bei weitem nicht vorüber, doch ich habe die Hoffnung, dass wir noch 2022 die Notlagenphase hinter uns lassen und uns anderen gesundheitlichen Bedrohungen zuwenden können, die dringend unsere Aufmerksamkeit erfordern. Rückstaus und Wartelisten haben zugenommen, die gesundheitliche Grundversorgung wurde beeinträchtigt, und die Pläne und Vorbereitungen im Hinblick auf klimabedingte gesundheitliche Belastungen wurden in der Europäischen Region vorerst auf Eis gelegt.
Auch wenn Omikron offenbar deutlich weniger schwere Verläufe hervorruft als Delta, so erleben wir doch aufgrund der schieren Zahl der Infektionen einen rapiden Anstieg der Hospitalisierungsrate. Darüber hinaus ist die Belastung durch Delta noch nicht gänzlich überstanden, und hinzu kommt auch eine hohe Zahl an inzidentellen Befunden. Glücklicherweise enden bei Omikron deutlich weniger Krankenhauseinweisungen auf der Intensivstation. Wie erwartet, sind ein Großteil der Menschen in unserer Region, die eine Intensivversorgung benötigen, ungeimpft.
Heute vor genau zwei Jahren meldete Frankreich die ersten bestätigten Fälle von COVID-19 in der Europäischen Region. Nun, 732 Tage später, sollten wir stolz auf das sein, was wir bisher erreicht haben und wie viel wir gelernt und wie wir uns an diese Jahrhundertherausforderung angepasst haben.
Doch wir dürfen auch nicht die inakzeptablen menschlichen Kosten vergessen: denn in jeder Stunde seit Beginn der Pandemie haben 99 Menschen in unserer Region ihr Leben infolge von COVID-19 verloren. Wir beklagen die über 1,7 Mio. Menschen in der Europäischen Region, die nicht mehr bei uns sind. Frühere Zugewinne bei der Bekämpfung der Armut wurden zunichte gemacht, und mehr als 4 Mio. Menschen in der Europäischen Region wurden unter die Armutsgrenze von 5,50 US-$ pro Tag gedrückt. Die Bildung und das seelische Wohlbefinden unserer Kinder haben ungeheuer gelitten.
Wir begrüßen die Entwicklung und Verteilung sicherer und wirksamer Impfstoffe, von denen bisher über 1,4 Mrd. Dosen in der Europäischen Region verabreicht wurden, die Hunderttausenden das Leben gerettet haben. Gigantische Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft und in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit haben zu sage und schreibe zehn verschiedenen zugelassenen Impfstoffen geführt, die gegenwärtig verimpft werden; weitere Impfstoffe sind in Entwicklung. Dies ist einer der größten wissenschaftlichen Erfolge seit Jahrzehnten.
Wir müssen das historische Verdienst unseres Gesundheitspersonals anerkennen, denn sie haben in dieser Krise die Hauptlast getragen und gehen zum Wohle ihrer Patienten weiterhin ein hohes Risiko ein. Wir können auch nicht behaupten, dass sie dies unbeschadet überstanden haben: einschlägige Studien belegen, dass bis zu 43% des an vorderster Linie tätigen Gesundheitspersonals unter erheblichen Angstzuständen leiden und dass ein großer Teil des auf Intensivstationen eingesetzten klinischen Personals inzwischen die klinische Schwelle für posttraumatische Belastungsstörung überschritten hat. Die Unterstützung dieser Berufsgruppen und die Förderung ihrer psychischen Gesundheit müssen zu einer zentralen Säule eines Wiederaufbaus zum Besseren werden. Mit ihnen erkennen wir die Opfer, die wir fast alle gebracht haben, jedoch in dem Wissen, dass diese Opfer für ohnehin schon vom Leben benachteiligte Menschen noch weit größer waren.
Obwohl Omikron eine realistische Hoffnung auf Stabilisierung und Normalisierung mit sich bringt, ist unsere Arbeit noch lange nicht getan. Denn beim Zugang zu Impfstoffen bestehen weiter krasse Ungleichheiten. Wenn also 2021 das Jahr der Herstellung von Impfstoffen war, dann muss 2022 zum Jahr der Chancengleichheit bei Impfstoffen werden – in der Europäischen Region und darüber hinaus. Immer noch sind zu viele Menschen, die den Impfstoff benötigen, ungeimpft. Das erleichtert die Übertragung des Virus und verlängert die Pandemie und erhöht überdies die Gefahr der Entstehung neuer Varianten.
Wie alle anderen Pandemien wird auch diese Pandemie einmal vorübergehen, doch es ist noch viel zu früh, um die Hände in den Schoß zu legen. Angesichts der Millionen Menschen, die sich weltweit in den vergangenen Wochen infiziert haben und in den kommenden Wochen noch infizieren werden, sowie der winterlichen Witterung und des Nachlassens der Immunität kann man fast sicher davon ausgehen, dass es zu neuen Varianten von COVID-19 kommen wird. Doch angesichts einer leistungsfähigen Surveillance und einer entsprechenden Beobachtung neuer Varianten, bei hoher Durchimpfung, einschließlich der dritten Dosis, sowie bei besserer Belüftung, einem bezahlbaren und chancengleichen Zugang zu antiviralen Medikamenten, gezielten Tests und der Abschirmung stark gefährdeter Gruppen mit hochwertigen Schutzmasken und Abstandhalten bei Auftreten einer neuen Variante bin ich überzeugt, dass eine neue Welle nicht mehr eine Rückkehr zu bevölkerungsweiten Lockdowns oder ähnlichen Maßnahmen wie während der Pandemiephase erfordern würde.