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Von der Wiege bis zum Gehstock: Der neue Europäische Gesundheitsbericht der WHO warnt vor lebenslangen Gesundheitskrisen in der gesamten Europäischen Region

25 February 2025
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Fast 76 000 Kinder in der Europäischen Region sterben jedes Jahr vor ihrem fünften Geburtstag; 1 von 6 Menschen stirbt vor dem Alter von 70 Jahren an nichtübertragbaren Krankheiten

Kopenhagen, 25. Februar 2025 

Trotz Fortschritten in einigen Bereichen stagniert die Europäische Region der WHO – die lange Zeit den Ruf hatte, einige der stärksten Gesundheitssysteme der Welt aufzuweisen – weitgehend bei einer Reihe von Indikatoren, die von der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bis hin zu chronischen Krankheiten reichen, oder verzeichnet sogar rückläufige Entwicklungen. Das ist der Tenor des jüngsten Europäischen Gesundheitsberichts der WHO, der sich auf die jüngsten verfügbaren Daten aus allen 53 Mitgliedstaaten in Europa und Zentralasien stützt. 

Der alle drei Jahre veröffentlichte Europäische Gesundheitsbericht – ein Flaggschiff-Bericht, der sich auf Erkenntnisse aus den Ländern stützt – zeichnet das umfassendste Bild der Gesundheit in der Region. Er liefert Regierungen und politischen Entscheidungsträgern klare Anhaltspunkte für das weitere Vorgehen in einer Zeit, in der Megatrends, wie gefährliche Desinformation, Personalmangel im Gesundheitswesen, die rasche Alterung der Bevölkerung und der Klimawandel, die Gesundheit wie nie zuvor beeinflussen.  

Schließung der Lücke bei der Säuglingssterblichkeit und Schutz der Gesundheit von Kindern

Während die Europäische Region insgesamt eine der niedrigsten Raten vermeidbarer Todesfälle bei Kindern weltweit aufweist, ist der Unterschied zwischen den diesbezüglich am besten und am schlechtesten abschneidenden Ländern enorm und reicht von 1,5 Todesfällen je 1000 Lebendgeburten bis hin zu 40,4. Diese Lücke zu schließen, bleibt eine Herausforderung. 

Ein Blick auf die jüngsten verfügbaren Daten zur Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren in allen 53 Mitgliedstaaten zeigt, dass im Jahr 2022 insgesamt 75 647 Kinder vor ihrem fünften Geburtstag starben. Die fünf wichtigsten Ursachen für die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren sind: Komplikationen bei Frühgeburten, Geburtsasphyxie, angeborene Herzanomalien, Infektionen der unteren Atemwege sowie neonatale Sepsis und andere Infektionen. 

Weitere Aspekte mit Blick auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, die Grund zur Besorgnis geben: 
  • Jeder fünfte Jugendliche in der Europäischen Region kämpft mit einer psychischen Erkrankung.
  • Suizid ist die häufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen. 
  • Mädchen schätzen durchweg ihr psychisches Wohlbefinden geringer ein als Jungen.
  • 15 % der Jugendlichen berichten, dass sie in letzter Zeit von Cybermobbing betroffen waren. 
  • Jeder zehnte Jugendliche im Alter von 13 bis 15 Jahren konsumiert eine Form von Tabakerzeugnissen, einschließlich E-Zigaretten. 
  • Nahezu jedes dritte Kind im schulpflichtigen Alter ist übergewichtig; jedes achte Kind leidet an Adipositas. 
Die Vermarktung von Produkten mit hohem Salz-, Fett- und Zuckergehalt hat einen negativen Einfluss auf das Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen und trägt langfristig zu schlechter Gesundheit bei. Dennoch lassen die meisten Länder solche schädlichen Werbepraktiken weiterhin zu.  

„In unserer vernetzten Online-Welt fühlen sich unsere jungen Menschen ironischerweise einsamer als je zuvor, und viele haben mit ihrem Gewicht und ihrem Selbstbewusstsein zu kämpfen, was sie für gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter prädestiniert“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Deshalb werden WHO/Europa und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) im späteren Verlauf dieses Jahres allen 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO eine richtungsweisende neue Gesundheitsstrategie für Kinder und Jugendliche zur Annahme vorlegen.“

Vermeidbare Todesfälle aufgrund nichtübertragbarer Krankheiten 

Die Europäische Region hat große Fortschritte bei der Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten gemacht – der bei Weitem häufigsten Todesursache in unserer Region. Mindestens 10 Mitgliedstaaten haben die Zielvorgabe der WHO einer 25-prozentigen Verringerung der vorzeitigen Sterblichkeit aufgrund der vier wichtigsten nichtübertragbaren Krankheiten erreicht. Dennoch stirbt in der Europäischen Region insgesamt gesehen immer noch jeder sechste Mensch vor Erreichen seines 70. Lebensjahres an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes oder chronischen Atemwegserkrankungen. 

Herz-Kreislauf-Erkrankungen machen 33,5 % – ein Drittel – der vorzeitigen Todesfälle aufgrund nichtübertragbarer Krankheiten in der Region aus, wobei das Risiko in Osteuropa und Zentralasien fast fünfmal so hoch ist wie in Westeuropa. Krebs verursacht ein weiteres Drittel – 32,8 % – der vorzeitigen Todesfälle in der gesamten Europäischen Region.

In dem Bericht werden mit Blick auf nichtübertragbare Krankheiten folgende weitere Aspekte genannt, die Grund zur Besorgnis geben:
  • Die Europäische Region weist mit durchschnittlich 8,8 Litern reinen Alkohols pro Erwachsenem und Jahr den weltweit höchsten Alkoholkonsum auf. In der Europäischen Union ist der Konsum derzeit am höchsten, in den zentralasiatischen Ländern am niedrigsten.
  • Der Tabakkonsum unter Erwachsenen ist mit insgesamt 25,3 % nach wie vor hoch.
  • Mit Blick auf die Verwirklichung der Zielvorgabe, bis 2025 den Tabakkonsum um 30 % zu senken, hinkt die Europäische Region hinterher.
„Nichtübertragbare Krankheiten erhalten nach wie vor nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit, obwohl sie für 90 % aller Todesfälle in unserer Region verantwortlich sind“, so Dr. Kluge. „Interessanterweise ist die Krebsinzidenz in West- und Nordeuropa höher als in Osteuropa und Zentralasien, wo Herz-Kreislauf-Erkrankungen häufiger sind, was zum Teil auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen, das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung und die Effizienz der Gesundheitssysteme zurückzuführen ist. Die gesamte Region muss die Ursachen chronischer Krankheiten bekämpfen, vom Tabak- und Alkoholkonsum über den schlechten Zugang zu gesunden und nahrhaften Lebensmitteln bis hin zu Luftverschmutzung und Bewegungsmangel. Die Klimakrise verschlimmert die Situation zusätzlich, indem sie die Krankheitslast in allen Bereichen, insbesondere bei chronischen Krankheiten, erhöht.“

Von den sechs Regionen der WHO ist die Europäische Region diejenige, die sich am schnellsten erwärmt und in der die Temperaturen etwa doppelt so schnell steigen wie im globalen Durchschnitt. In der gesamten Region gibt es jedes Jahr schätzungsweise 175 000 hitzebedingte Todesfälle. Darüber hinaus ist es wichtig, die Auswirkungen anzuerkennen, die das Gesundheitswesen selbst auf die Umwelt hat. Im Jahr 2020 war das Gesundheitswesen weltweit für etwa 5 % der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich.

Routineimpfraten stagnieren angesichts des Wiederauftretens von Infektionskrankheiten 

Die suboptimalen Impfraten der letzten Jahre haben in einem Umfeld zunehmender und durch Desinformation genährter Impfskepsis zu einem Wiederauftreten vermeidbarer Krankheiten geführt. 2023 wurden in 41 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region 58 000 Masernfälle verzeichnet, was einem unglaublichen 30-fachen Anstieg gegenüber dem Vorjahr entspricht.

Unterdessen sind Erfolge bei der Bekämpfung der Tuberkulose in der Europäischen Region zu verzeichnen: Zwischen 2015 und 2022 ist die Tuberkulose-Inzidenz um 25 % und die Zahl der durch Tuberkulose bedingten Todesfälle um 32 % zurückgegangen. Trotzdem bleibt die medikamentenresistente Tuberkulose ein wachsendes Problem. Diese schwer zu behandelnden medikamentenresistenten Tuberkulosefälle machen ein Viertel der Neuerkrankungen aus, und ihre Behandlungserfolgsquote liegt weit unter dem Zielwert von 80 %. Nach neuesten Erkenntnissen aus 13 Ländern weist ein verkürzter neunmonatiger Behandlungsplan für multiresistente Tuberkulose jedoch eine Behandlungserfolgsquote von 83 % auf, weit mehr als die bisherige durchschnittliche Erfolgsquote von 57 % für die Europäische Region. In der Vergangenheit konnte die Behandlung von multiresistenter Tuberkulose bis zu drei Jahre dauern.  

Zudem leben in der Europäischen Region schätzungsweise 3 Mio. Menschen mit HIV. Obwohl die Rate der diagnostizierten HIV-Infektionen von 2013 bis 2022 in der gesamten Region von 16,4 auf 12,4 pro 100 000 gesunken ist, wissen nur 72 % der Infizierten von ihrem Status und nur 63 % erhalten eine lebensrettende antiretrovirale Therapie. Nur 5 der 53 Mitgliedstaaten in der Region haben das Ziel einer Behandlungsquote von 90 % bei HIV-positiven Patienten erreicht. 

Ein Leben lang bei guter Gesundheit

„Der große Wert des Europäischen Gesundheitsberichts liegt darin, dass er die gesundheitlichen Zusammenhänge über den gesamten Lebensverlauf hinweg aufzeigt. Der Schutz und die Verbesserung der Gesundheit von Kindern zahlt sich ein Leben lang aus und senkt die Kosten für die Gesellschaft“, so Dr. Kluge. „Ein gesundes Kind wird mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem gesunden Jugendlichen, einem gesunden Erwachsenen und einem gesunden älteren Menschen heranwachsen. Dies ist von größter Bedeutung, denn zum ersten Mal gibt es in der Europäischen Region mehr Menschen über 65 Jahre als unter 15 Jahre.“ 

Demenz ist eine der häufigsten Ursachen für Pflegebedürftigkeit und Behinderung unter älteren Menschen. In den letzten Jahrzehnten ist der Anteil der Todesfälle, die auf Alzheimer und andere Demenz-Erkrankungen zurückzuführen sind, stark angestiegen. 2019 waren mehr als 14 Mio. Menschen in der Region von Demenz betroffen, und ihre Prävalenz dürfte sich bis 2030 verdoppeln. 

„Da finanzielle und personelle Ressourcen immer knapper werden, wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung zunehmend schwieriger“, erklärte Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder bei WHO/Europa. „Dies betrifft vor allem Haushalte mit geringem Einkommen. In unseren 53 Mitgliedstaaten reicht der Anteil der Haushalte, die von ruinösen Gesundheitsausgaben betroffen sind, von unter 1 % bis über 21 %. In 25 Mitgliedstaaten sind schätzungsweise 5 % der Haushalte von ruinösen Gesundheitsausgaben betroffen, was bedeutet, dass die Kosten für die Gesundheitsversorgung sie daran hindern, andere Grundbedürfnisse wie Nahrung und Energie zu decken. Ein Leben bei guter Gesundheit zu gewährleisten, bedeutet, strategisch in die Gesundheitssysteme zu investieren, um eine wirklich universelle Versorgung zu gewährleisten.“  

Ein Fahrplan und ein Handlungsappell 

WHO/Europa hat einen umfassenden Konsultationsprozess mit allen 53 Mitgliedstaaten eingeleitet, um Prioritäten und Maßnahmen für die nächsten fünf Jahre festzulegen, wobei der Europäische Gesundheitsbericht als wichtige Evidenzgrundlage für die Diskussionen dient. 

Das zweite Europäische Arbeitsprogramm soll von den Mitgliedstaaten auf einer Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa Ende Oktober angenommen werden. Es besteht ein breiter Konsens über eine Reihe dringender gesundheitlicher Herausforderungen, darunter psychische Gesundheit, nichtübertragbare Krankheiten, Gesundheitssicherheit, Gewalt gegen Frauen und Mädchen und die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels. 

„Dieser Bericht, der alle drei Jahre veröffentlicht wird, ist das, was die WHO am besten kann: rohe Zahlen aus riesigen Datensätzen in umsetzbare Erkenntnisse umwandeln, Trends erkennen, Risiken aufdecken und Orientierungshilfe für kluge politische Entscheidungen geben“, erklärte Dr. Kluge abschließend. „In einer Zeit zunehmender sozialer und politischer Polarisierung, auch in Bezug auf die Gesundheit, gibt der Europäische Gesundheitsbericht den Regierungen die Evidenz und das Wissen an die Hand, das sie brauchen, um schnell zu handeln und so eine solide Gesundheitspolitik umzusetzen, widerstandsfähige Gesundheitssysteme aufzubauen, Leben zu schützen und dabei das Gefüge der Gesellschaft selbst zu stärken. Wir können und müssen mehr tun und rasch auf die Verwirklichung von Gesundheit für alle hinarbeiten.“