Gemeinsame Erklärung zur Europäischen Impfwoche 2022: Impfungen – unentbehrlich für ein langes Leben und das Wohlergehen aller

25 April 2022
Statement
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Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa und Afshan Khan, Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF)

Genf und Kopenhagen, 24. April 2022 

Alle Menschen verdienen unabhängig von Alter, Geschlecht und Geburts- oder Wohnort eine gleiche Chance auf ein langes und gesundes Leben. Impfungen verhindern und unterbrechen nicht nur die Ausbreitung von Krankheiten, sondern bringen auch eine Kaskade von Vorteilen für den Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt mit sich. 

Die vergangenen zwei Jahre haben eine einfache, aber unbestreitbare Tatsache verdeutlicht – wenn wir jemanden zurücklassen, lassen wir letztendlich alle zurück.

Es ist unsere kollektive Verantwortung, dafür zu sorgen, dass alle Kinder überall auf der Welt Zugang zu sämtlichen in den nationalen Routineimpfplänen vorgesehenen Impfungen erhalten und dass alle verpassten Dosen schnellstmöglich nachgeholt werden.

Seit der Einstufung von COVID-19 als globale Pandemie im Jahr 2020 haben wir alle die verheerenden Auswirkungen dieser Krankheit auf die ganze Welt, auf unsere Familien und vor allem auf unsere Kinder erlebt. Es war eine Zeit der Herausforderungen für alle, in der neue Varianten und neue Wellen des Virus eine nahezu ständige Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen erforderlich machten und das Alltagsleben und ganze Volkswirtschaften abrupt zum Erliegen brachten.

Dank einer beispiellosen weltweiten Zusammenarbeit konnten verschiedene Impfplattformen in Rekordzeit Impfstoffe gegen COVID-19 entwickeln. Wir haben die außerordentlichen Anstrengungen der Gesundheitsministerien in aller Welt zur flächendeckenden Einführung der zugelassenen Impfstoffe gegen COVID-19 erlebt, durch die unzählige Menschenleben gerettet werden konnten. 

Die Impfungen gegen COVID-19 haben die Zahl der schwer erkrankten und hospitalisierten Personen deutlich reduziert und auch die Gesundheitssysteme entlastet, sodass Krankenhäuser und Kliniken über die nötigen Kapazitäten zur Behandlung von Menschen mit anderen Leiden verfügen. 

Eine im November 2021 veröffentlichte Studie kam in einer Schätzung für 33 der 53 Länder der Europäischen Region der WHO zu dem Ergebnis, dass dort von Dezember 2020 bis November 2021 allein in der Altersgruppe über 60 Jahre 470 000 Menschenleben gerettet wurden. 

Bisher wurden in der Europäischen Region über 1,5 Mrd. Dosen COVID-19-Impfstoff verabreicht. Das ist ein großer Erfolg, doch vor uns liegt noch ein langer Weg. Denn Millionen von Menschen, darunter viele mit besonders hohem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf, sind weiterhin ungeschützt, während sich das Virus weiter ausbreitet.

Gleichzeitig hat die COVID-19-Pandemie auch Auswirkungen auf Routineimpfungen gehabt und in mehreren Ländern der Europäischen Region zu einem Rückgang der Durchimpfung geführt, der Tausende von Kindern der Gefahr einer Infektion mit impfpräventablen Krankheiten ausgesetzt hat. 

Während dieses Zeitraums hat die Europäische Region ihre Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt, indem sie auf Ausbrüche von vakzine-abgeleiteten Polioviren in Tadschikistan und der Ukraine sowie zuletzt in Israel reagiert hat. Durch wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Ausbruchs in Tadschikistan, wie eine Ausweitung der Polio-Surveillance und drei Runden Ergänzungsimpfungen für Kinder unter sechs Jahre, ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit gelungen, die Übertragung des Virus in dem Land zu unterbrechen. 

Doch wir sind besorgt darüber, dass das Virus in der Ukraine noch immer präsent ist. Eine landesweite Impfkampagne zum Schutz von 140 000 ungeimpften Kindern wurde nur wenige Wochen nach ihrem Beginn am 1. Februar dieses Jahres unterbrochen. Die anhaltende humanitäre Krise in der Ukraine hat in tragischer Weise Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden. Das schon zuvor durch COVID-19 angeschlagene Gesundheitswesen ist nun vollständig überlastet. Zu den zahlreichen ernsten und langfristigen Folgen zählt auch die Störung des Impfbetriebs in dem Land. 

Jeder Tag, an dem der unterbrochene Impfbetrieb nicht wieder aufgenommen wird bzw. keine Nachholtermine für vertriebene Kinder angeboten werden, erhöht das Risiko eines Zirkulierens von Polio, aber auch die Gefahr von Ausbrüchen anderer Kinderkrankheiten und einer weiteren Ausbreitung von COVID-19. Solche Ausbrüche erinnern uns drastisch an die Anfälligkeit unserer Gesellschaft, sobald es ungeimpfte oder unzureichend durchimpfte Bevölkerungsgruppen gibt.

Durch Krankheitsprävention bewahren Impfungen vor Leiden und der finanziellen Belastung durch Behandlungen und dienen somit als erste Verteidigungslinie gegen Antibiotikaresistenzen. Außerdem verhindern sie lebenslange schädliche Auswirkungen auf soziale und wirtschaftliche Chancen. Die kollektive Wirkung breit angelegter Impfmaßnahmen darf in Bezug auf ihren Beitrag zu ökonomischer Stabilität, sozialer Chancengleichheit und Lebensqualität nicht unterschätzt werden. 

Wenn wir heute kurz innehalten und auf die dank Impfungen erreichten historischen Errungenschaften zurückblicken – Eradikation der Pocken, fast vollständige Eradikation der Poliomyelitis und eine deutlich geringere Prävalenz von Masern, Röteln und vielen anderen einst weit verbreiteten Krankheiten –, dann ist auch klar, dass wir diese Errungenschaften nicht einfach verspielen dürfen. Anderenfalls werden viele unserer anderen Ziele – Gewährleistung von Gesundheit und Wohlbefinden, Beendigung der Armut, Ermächtigung von Frauen, Verbesserung der Menschenrechtslage – schwerer zu erreichen sein. 

Der volle Nutzen von Impfungen wird erst eintreten, wenn niemand mehr zurückgelassen wird und wenn die Europäische Impfagenda 2030, eine von allen Mitgliedstaaten angenommene Vision für das kommende Jahrzehnt, vollständig umgesetzt ist. Es ist unser aller Aufgabe, allen Menschen den Nutzen von Impfungen zugänglich zu machen.