Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Guten Morgen!
Seit über einem Jahrhundert hat Europa zahlreiche folgenschwere Krisen durchgestanden. Doch in den letzten Jahren hat die Häufigkeit der Krisen zugenommen – einschließlich jener, die mit dem Klimawandel und neu auftretenden, sich in unserer vernetzten Welt immer schneller ausbreitenden Infektionskrankheiten in Zusammenhang stehen.
Die extreme Hitze und Waldbrände, die in vielen Teilen Europas in diesem Sommer verheerende Folgen hatten, sind nur ein Beispiel.
Die anhaltende COVID-19-Pandemie mit – bislang – rund 250 Millionen bestätigten Fällen und über 2 Millionen gemeldeten Todesfällen in Europa und Zentralasien ist eine weitere Krise, die dazu geführt hat, dass das Thema Gesundheit weit oben auf der politischen und entwicklungsbezogenen Tagesordnung steht, doch deren Lehren in vielen Ländern möglicherweise noch nicht vollständig beherzigt werden.
Dann sind da der aktuelle Ausbruch der Affenpocken, der zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite erklärt wurde, sowie das jüngste Wiederauftreten von vakzine-abgeleiteten Poliofällen in unserer Region.
Und nicht zuletzt der verheerende Krieg in der Ukraine, der leider keine Anzeichen für eine De‑Eskalation erkennen lässt und verschärft wird durch entsetzliche Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und -anbieter, und zudem eine Krise der psychischen Gesundheit immensen Ausmaßes ausgelöst hat.
All dies sind offenkundige Beispiele, die zu dem beitragen, was vom European Health Forum Gastein als „Permakrise“ betitelt wurde.
Ich würde die Definition einer Permakrise jedoch gerne über den Klimawandel, Infektionskrankheiten und Krieg hinaus erweitern.
Es gibt andere langanhaltende Krisen, die relativ still – oft ganz unbemerkt – verlaufen und dennoch die Gesundheit von Millionen beeinträchtigen und unsere Gesundheitssysteme in der gesamten Region belasten.
Ich spreche von nichtübertragbaren Krankheiten – einschließlich Krebs, Herzerkrankungen, alkohol- und tabakbedingten Krankheiten und der Adipositasepidemie.
COVID-19 ist ohne jeden Zweifel die sichtbarste Pandemie in unserer Lebenszeit, aber nicht die tödlichste. Und auch nicht die am leichtesten verhinderbare. Diese Auszeichnung geht an die Pandemie der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Während der COVID-19-Pandemie sind fünfmal so viele Menschen in einem niedrigeren Durchschnittsalter an Herzinfarkten und Schlaganfällen gestorben wie an COVID-19 während der schlimmsten Phase der Pandemie.
Die drei – vermeidbaren – Haupttriebkräfte von Schlaganfällen und Herzinfarkten sind Tabakkonsum, Bluthochdruck und Luftverschmutzung.
Die einzige Ursache, die für mehr Todesfälle in der Europäischen Region verantwortlich ist als der Tabakkonsum, ist der Bluthochdruck: 2,4 Millionen Menschen im Jahr; das ist ein Viertel aller Todesfälle in unserer Region.
Natürlich wissen wir, dass Bluthochdruck auch mit Adipositas verknüpft ist. In unserer Region leidet ein Viertel der Kinder im Grundschulalter an Übergewicht oder Adipositas.
Darum waren wir vor zwei Wochen auf der Tagung des Regionalkomitees in Tel Aviv auch so begeistert von der Ankündigung der Ehefrau des kroatischen Präsidenten, einen Gesamteuropäischen WHO-Gipfel der Ehepartner von Staatsoberhäuptern ins Leben zu rufen, um Adipositas im Kindesalter zu bekämpfen, und den ersten derartigen Gipfel im nächsten Jahr in Kroatien auszurichten.
Natürlich hat Bluthochdruck auch mit Alkoholkonsum zu tun. In unserer Region leben die schwersten Trinker weltweit. Ein Drittel aller Todesfälle unter jungen Menschen ist alkoholbedingt.
Es gibt keinen unbedenklichen Alkoholkonsum; dafür gibt es ausreichende Evidenz. Im Rahmen unseres Regionalkomitees in Tel Aviv wurde daher erstmals ein Handlungsrahmen zur Bekämpfung des Alkoholkonsums in der Europäischen Region angenommen.
Die dritte große Triebkraft von Schlaganfällen und Herzinfarkten ist die Luftverschmutzung. Sie ist allein in unserer Region für jährlich 550 000 Todesfälle verantwortlich, die Hälfte davon durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Letzte Woche kam ich aus Kasachstan zurück, wo ich an einer Tagung der Gesundheitsminister der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in Turkestan teilgenommen hatte. Dort wurden mir die alten Widersacher in Erinnerung gerufen, die von der politischen Tagesordnung verschwunden sind, namentlich HIV/Aids.
Dem Gemeinsamen Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) zufolge sind Osteuropa und Zentralasien sowie Lateinamerika, der Nahe Osten und Nordafrika die Regionen, in denen die Zahl der HIV-Neuinfektionen nach wie vor steigt. Aber politisch gesehen ist es sehr bequem, dieses Thema nicht länger auf der Tagesordnung zu haben. Denn was benötigt wird, sind größere Anstrengungen, um Schlüsselgruppen in der Bevölkerung zu erreichen. Hierzu zählen Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten, Transgender, injizierende Drogenkonsumenten, Prostituierte und ihre jeweiligen Sexualpartner. Es bedarf dringend eines starken Engagements der Politik und einer entsprechenden Finanzierung, um die HIV-Angebote zu stärken. Wir wissen, dass in einer Reihe von Ländern bis zu 50% der HIV-Testeinrichtungen während der COVID-19-Pandemie geschlossen waren.
Also ja, wir befinden uns in einer Permakrise, die weit über die Pandemie, den Klimawandel und Krieg hinausgeht. Dies ist unsere neue Normalität. Und unsere neue Normalität erfordert eine zweigleisige Reaktion.
Was bedeutet das?
Auf der einen Seite müssen wir dringend für gesundheitliche Notlagen wie Pandemien, klimabedingte Krisen und Konflikte vorsorgen. Auf der anderen müssen wir dringend unsere gegenwärtigen Gesundheitssysteme und grundlegenden Angebote stärken, um die Permakrise der nichtübertragbaren Krankheiten und von HIV zu bekämpfen. Das eine darf nicht für das andere geopfert werden. Es bedarf Investitionen in das Gesundheitspersonal und in die psychische Gesundheit.
Dieser zweigleisige Ansatz sollte WHO/Europa und der von uns geleisteten Arbeit zur Unterstützung der Länder ebenso wie der Europäischen Union als Leitlinie dienen.
Diese Herausforderungen sind gewaltig. Doch das bedeutet nicht, dass wir uns geschlagen geben sollten.
Wir können – und sollten – die Permakrise in ihrer Gesamtheit gemeinsam bekämpfen, auf eine praktische Weise, die uns allen zugutekommt.
Ich wünsche uns allen Frieden und eine gute Gesundheit.*
*Dieser Artikel wurde aktualisiert, um einen Fehler zu korrigieren. In einer früheren Fassung wurde fälschlicherweise behauptet, dass die Europäische Region und die Region Afrika die einzigen Regionen der WHO seien, in denen die Zahl der HIV-Neuinfektionen noch steigt.

