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Wohn- und Beschäftigungsprogramme zeigen, wie „psychische Gesundheit in allen Politikbereichen“ konkret vor Ort aussehen kann

28 July 2025
News release
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Im Juni dieses Jahres riefen Führungspersönlichkeiten aus 31 Ländern in Paris zu einem mutigen Wandel auf: Die psychische Gesundheit solle zu einer Angelegenheit für alle gemacht werden, nicht nur für die Gesundheitsministerien. 

Christophe, eine Fachkraft für Peer Support (gegenseitige Unterstützung durch Gleichgesinnte) im französischen „Housing First“-Programm, erlebt diesen Wandel bereits vor Ort. Als Teil eines integrierten Teams, das die Bereiche Wohnungswesen, psychische Gesundheitsversorgung, Sozialdienste und vor allem gelebte Erfahrungen vereint, arbeitet er mit Menschen, die Obdachlosigkeit erlebt haben und von denen viele auch unter psychischen Problemen leiden.

„Ich unterstütze Menschen mit psychischen Erkrankungen durch meine eigenen Erfahrungen mit der Genesung“, sagt er. „Die Menschen können sich nicht um ihre psychische Gesundheit kümmern, wenn sie keinen Zugang zu stabilen Wohnverhältnissen haben. Das Housing-First-Modell gibt ihnen ein Fundament – im wahrsten Sinne des Wortes – und dann arbeiten wir gemeinsam an der Genesung“, erklärt er.

„Meine Aufgabe ist es, den Menschen Hoffnung zu geben und sie zu mehr Eigenverantwortung zu befähigen, denn die Genesung erfolgt nicht linear. Sie braucht Zeit, und der Weg eines jeden Menschen ist anders.“

Dieser Ansatz verkörpert den Geist der Abschlusserklärung der hochrangigen Konferenz der Europäischen Region zum Thema „Psychische Gesundheit in allen Politikbereichen“, die am 16. und 17. Juni 2025 in Paris stattfand und von WHO/Europa und dem französischen Ministerium für Gesundheit und Zugang zum Gesundheitswesen gemeinsam veranstaltet wurde. Die Erklärung von Paris bietet einen neuen Rahmen für die Verankerung der psychischen Gesundheit in der staatlichen Politik. 

Beschäftigung als Pfeiler der Genesung

Eine Wohnung ist ein Eckpfeiler der Genesung, ebenso wie eine sinnvolle Arbeit. Das französische Programm „Working First“ veranschaulicht, inwiefern die Beschäftigungspolitik Menschen mit psychischen Erkrankungen aktiv unterstützen kann und wie Arbeitsplätze zu einem Umfeld werden können, das Heilung und nicht Schaden bringt.

Jerome, ein ehemaliger Teilnehmer von Working First, beschreibt seinen Weg von der Verzweiflung zur Selbstbestimmung: „Als ich mich 2017 dem Programm Working First anschloss, habe ich mir gesagt: ,Hör auf mit dem Unsinn, such dir einen Job‘“, erinnert er sich. „Sie haben mir nicht bloß geschmeichelt, damit ich mich besser fühle. Ihre Aufrichtigkeit hat mir sehr geholfen – und das hat mir bei meiner Genesung geholfen.“

Working First vermittelt Menschen mit psychosozialen Behinderungen einen Arbeitsplatz und bietet gleichzeitig individuelle, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung. Für Jerome machten die Aufrichtigkeit und der Respekt des Personals den Unterschied aus.

„Es gab keinen Druck, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Ich bat um eine gewisse Autonomie, und obwohl sie mir eine intensivere Unterstützung anboten, lehnte ich ab – und das haben sie respektiert.“

Jerome ist der Ansicht, dass sich neben der Politik auch die gesellschaftliche Einstellung ändern muss. „Wir leiden noch immer unter Widersprüchen. Die Menschen denken, dass jemand mit einer Behinderung schwach oder unfähig ist – aber meiner Erfahrung nach leben einige der ausgeglichensten Menschen, die ich kenne, mit Behinderungen. Wir müssen aufhören, den Wert eines Menschen daran zu messen, ob er ,normal‘ erscheint, und anfangen zu respektieren, wie Genesung wirklich aussieht.“ 

Ein praktisches Modell

Angesichts der Tatsache, dass jeder sechste Mensch in der Europäischen Region der WHO an einer psychischen Erkrankung leidet und jeder Dritte keine Behandlung erhält, ist eine gemeinsame, auf den Menschen ausgerichtete Unterstützung dringend erforderlich. Die französischen Modelle von „Housing First“ und „Working First“ zeigen, wie die Unterstützung der psychischen Gesundheit in die Wohn-, Beschäftigungs- und Sozialfürsorgesysteme integriert werden kann – mit beeindruckenden Ergebnissen.

Das Programm „Housing First“ bietet unmittelbar eine Wohnung, gefolgt von maßgeschneiderter Unterstützung. Das bedeutet, dass in Krisenzeiten der Schwerpunkt nicht darauf liegt, die Person aus ihrer Wohnung zu entfernen, sondern sie dort zu unterstützen, wo sie sich befindet.

„In stabilen Zeiten erstellen wir gemeinsam mit der Person einen Genesungsplan, damit wir im Krisenfall vorbereitet sind“, erklärt Christophe. „Die Wohnung gibt uns einen Anker. Hier können die Menschen schlafen, essen, sich sicher fühlen – und anfangen, über ihre psychische Gesundheit nachzudenken.“

Und durch das Programm „Working First“ wird eine Beschäftigung nicht nur möglich, sondern für diejenigen, die mit einer langfristigen Ausgrenzung zu kämpfen hatten, gar zu einem Wendepunkt. „Bei der Genesung geht es nicht nur um Behandlung. Es geht auch darum, wieder Teil der Gesellschaft zu werden und um all die Schritte, die man durchläuft, um sich selbst wieder aufzurichten“, sagt Jerome.

„Unterstützung bei Wohnung und Beschäftigung spiegeln den Wandel wider, der notwendig ist, um die Genesung und soziale Eingliederung von Menschen mit psychischen Problemen wirklich zu fördern. Allgemeiner gesagt muss sich die staatliche Politik mit allen Faktoren befassen, die die psychische Gesundheit beeinflussen – einschließlich Gewalt gegen Kinder und Frauen, Sucht, Bildung, Wohnen, Arbeit, Freizeit, Sport und Kultur“, sagt Frank Bellivier, Ministerialbeauftragter für psychische Gesundheit und Psychiatrie im Ministerium für Gesundheit und Zugang zum Gesundheitswesen. 

Er fügt hinzu: „Auf der Konferenz zum Thema ,Psychische Gesundheit in allen Politikbereichen‘, die am 16. und 17. Juni in Paris stattfand, wurde dieser ressortübergreifende Ansatz nicht nur als unverzichtbar bekräftigt, sondern auch anhand konkreter Beispiele von Ministerien aus mehreren Ländern aufgezeigt. Das war eine ermutigende Botschaft – und der Schlüssel zum Erfolg der Veranstaltung.“

Ein breiterer Handlungsappell

Die Erklärung von Paris, die von den Teilnehmerländern angenommen wurde, zeigt die wichtigsten Stoßrichtungen für Veränderungen auf:
  • ressortübergreifende Abstimmung von Finanzierung und Rechenschaftslegung
  • aktive Einbeziehung von Menschen mit gelebten Erfahrungen in alle Phasen der Politik
  • Förderung der sozialen Eingliederung durch öffentliche Leistungsangebote und Stadtplanung
  • Förderung der psychischen Gesundheit in digitalen Räumen, insbesondere bei jungen Menschen
  • Abkehr von Zwang und Hinwendung zu freiwilligen, auf Rechten basierenden Versorgungmodellen.
„Die Stärke von WHO/Europa liegt darin, Menschen zusammenzubringen und den Austausch von Wissen zu erleichtern – über Grenzen, Ressorts und Perspektiven hinweg. Mit dieser Konferenz und der Erklärung von Paris unterstützen wir die Länder dabei, von isolierten Maßnahmen zu koordinierten Systemen überzugehen. Was wir in Frankreich mit Modellen wie Housing First und Working First sehen, zeigt, dass dieser Ansatz funktioniert –, und die WHO ist stolz darauf, die Länder bei der Umsetzung zu unterstützen“, sagt Ledia Lazeri, Regionalbeauftragte für psychische Gesundheit bei WHO/Europa.

Frankreich hat die psychische Gesundheit zu einem „großen Anliegen“ für 2025 erklärt und damit das gesamtgesellschaftliche Engagement für das psychische Wohlbefinden verstärkt. 

Während die Länder in der gesamten Europäischen Region die Erklärung von Paris umsetzen, haben Christophe und Jerome eine klare Botschaft: Genesung ist keine isolierte Angelegenheit – sie ist eine gesellschaftliche Aufgabe.

„Psychische Gesundheit hört nicht an der Tür des Psychiaters auf“, sagt Jerome. „Sie erstreckt sich auch auf den Arbeitsplatz der Menschen, auf die Art und Weise, wie man sie behandelt, darauf, inwiefern das System ihr Leben respektiert oder nicht respektiert.“

Wenn die psychische Gesundheit in jeden Politikbereich einbezogen wird, ist eine Genesung nicht nur möglich, sondern wird auch erwartet – und unterstützt.