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Es ist Zeit zu erkennen, dass Adipositas eine Krankheit ist – Österreich baut ein nationales Behandlungssystem auf

8 September 2022
News release
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Adipositas muss ebenso behandelt werden wie jede andere Krankheit, die das Leben von Menschen bedroht. Um Adipositas wirksam bekämpfen zu können, müssen Politik, Gesundheitsberufe und andere maßgebliche Akteure ein Gesundheitssystem schaffen, in dem jede Person Zugang zu hochwertigen Leistungen für die Bewältigung von Übergewicht und Adipositas erhält. Österreich arbeitet derzeit am Aufbau eines solchen Systems, das die Behandlung von Adipositas auf eine neue Ebene heben soll.

Bekämpfung der Adipositas: Behandlung ist erst der Anfang

Nina, ein Mädchen, das in einer ländlichen Gegend Österreichs wohnt, wurde im Alter von 14 Jahren mit Adipositas und einer schweren individuellen Belastung durch Begleiterkrankungen diagnostiziert. Nach einer medikamentösen Behandlung und einer erheblichen Gewichtsabnahme wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Aber da sie zweieinhalb Fahrtstunden von der Klinik entfernt wohnte, verlor sie acht Monate nach der Behandlung den Kontakt mit ihren Ärzten.

Als Nina zurückkam, hatte sie nicht nur wieder zugenommen, sondern litt auch an Typ-2-Diabetes.

„Fälle wie die von Nina zeigen, dass Behandlung helfen kann, aber dass sie nie ausreicht, wenn der Kontakt zwischen Patienten und Ärzten nicht aufrechterhalten wird und wenn es kein nationales System gibt, das klare Leitlinien für die Behandlung von Adipositas setzt“, sagte Dr. Daniel Weghuber, Leiter der Abteilung Pädiatrie an der Uniklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Paracelsus Medizinischen Universität in Salzburg.

Gegenwärtig leben in Österreich etwa 240 000 Kinder und Jugendliche mit Übergewicht oder Adipositas.

Aus einem vor Kurzem veröffentlichten Bericht von WHO/Europa geht hervor, dass in der Europäischen Region der WHO etwa 60% aller Erwachsenen und ein Drittel der Kinder an dieser Erkrankung leiden. Zur Beendigung der Ausbreitung der Adipositas sind umfassende politische Konzepte erforderlich, sowohl in der Adipositasprävention, etwa durch Schaffung zuträglicher Umfelder für gesunde Ernährung und Bewegung, als auch beim Krankheitsmanagement für Personen, die an Übergewicht und Adipositas leiden.

Behandlung von Adipositas als Leistung der allgemeinen Krankenversicherung

Als Präsident der European Childhood Obesity Group hat Dr. Weghuber eine Führungsrolle bei den Arbeiten an einem nationalen Konzept für die Behandlung von Adipositas im Kindesalter übernommen, das auf der Überlegung basiert, dass Adipositas eine ernstzunehmende chronische Erkrankung ist, die eng mit anderen nichtübertragbaren Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten verknüpft ist.

Das Konzept wurde von Angehörigen der Gesundheitsberufe aus der primären bis tertiären Gesundheitsversorgung ausgearbeitet und 2019 von allen maßgeblichen Interessengruppen, auch von Vertretern der Sozialversicherung, unterzeichnet.

Die WHO appelliert schon seit geraumer Zeit an die Mitgliedstaaten, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um bis 2025 der sog. globalen Adipositasepidemie Einhalt zu gebieten, da bisher kein Land auf Kurs ist, um den Anstieg der Fallzahlen bis zu diesem Zeitpunkt zu stoppen oder gar umzukehren.

Heute ist Österreich bereit für den nächsten Schritt. In einer landesweiten Initiative haben führende Vertreter der Gesundheitsberufe und anderer maßgeblicher Interessengruppen die Österreichische Adipositas Allianz gegründet. Die Allianz schlägt ein erneuertes Programm für das Adipositasmanagement vor, in dem Adipositas als eine Krankheit anerkannt wird, und fordert, dass das Adipositasmanagement in das allgemeine Krankenversicherungssystem (Gesundheitskassen) aufgenommen wird.

Viele Menschen sehen Adipositas nicht als Problem

Mehrere Regionen in Österreich haben bereits die nötige Infrastruktur für das geplante nationale Programm zur Behandlung von Adipositas geschaffen. Diese Strukturen können auf andere Regionen im Land ausgeweitet werden. Doch um das Programm flächendeckend einzuführen, kommt es auch wesentlich auf ein Engagement der Politik an, das voraussetzt, dass Adipositas als schwerwiegende Herausforderung für die öffentliche Gesundheit erkannt wird.

„Wir müssen die bisher vorherrschende Wahrnehmung in Bezug auf Adipositas ändern“, erklärte Dr. Michael Krebs, Facharzt für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Wien. „In Österreich leiden mehr als 3 Millionen Erwachsene und 240 000 Kinder an Übergewicht oder Adipositas; betroffen sind alle demografischen Gruppen. Doch mehr als 85% der Adipositaspatienten, die zur Behandlung in unsere Ambulanzen kommen, sind Frauen. Das bedeutet, dass die meisten Männer, die an Adipositas leiden, ihre Erkrankung nicht als eine Krankheit ansehen – oder diese aus irgendwelchen Gründen nicht behandeln lassen wollen.“

In vielen Ländern der Europäischen Region ist Adipositas immer noch mit einem sozialen Stigma behaftet, das die lebensbedrohlichen Risiken dieser Erkrankung noch deutlich verschärft. Die Gesundheitsberufe brauchen von der Politik Hilfe in Form von evidenzbasierten Botschaften und Empfehlungen der WHO an ein breiteres Publikum.

„Wir müssen akzeptieren, dass Adipositas eine Krankheit ist“

„Die Länder müssen einen umfassenden Ansatz zur Prävention und Bewältigung von Adipositas einführen“, erklärte Dr. Kremlin Wickramasinghe, kommissarischer Leiter des Europäischen Büros der WHO für die Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten. „Wir haben viel davon gelernt, dass wir Menschen mit Adipositas und ihren Familien zugehört haben, und wir ermutigen alle Regierungen, Maßnahmen zu ergreifen, um die wichtigen Beiträge dieser wichtigen Interessengruppen für alle Phasen des Zyklus der Adipositaspolitik zu sichern.“

Auf der 72. Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa (RC72), die im September 2022 in Israel stattfindet, werden hochrangige Entscheidungsträger aus allen 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region über bewährte Praktiken diskutieren, die die weitere Ausbreitung der Adipositas stoppen und diesem dringlichen Problem Einhalt gebieten sollen.

Österreich ist aktiv an zahlreichen einschlägigen Projekten der WHO wie der Initiative zur Überwachung von Adipositas im Kindesalter (COSI) und dem Vermarktungs-Netzwerk beteiligt. Diese Projekte sind den Gesundheitsberufen und den Betroffenen dabei behilflich, effektive und auf die Länder zugeschnittene Systeme zur Bekämpfung der Adipositas zu schaffen.

„Wir müssen akzeptieren, dass Adipositas eine Krankheit ist. Und da sie eine chronische Krankheit ist, muss jede Person, die an ihr leidet, diagnostiziert werden, und in jedem Fall muss ein Behandlungsverlauf festgelegt werden. So sieht die Zukunft aus“, lautet das Fazit von Dr. Weghuber.