„Wenn man sich die Statistiken zu Opfern häuslicher Gewalt während der COVID-19-Pandemie in Georgien und seinen Nachbarländern ansieht, dann stellt man fest, dass sich die Situation verschlimmert hat“, sagte Luka Khabazishvili, Leiter der klinischen Forschungsabteilung am Institut für klinische Onkologie in Tiflis. Luka ist eine von 160 Gesundheitsfachkräften in Georgien, die dafür geschult wurden, Anzeichen von geschlechtsspezifischer Gewalt bei ihren Patienten zu erkennen und darauf zu reagieren.
Die Schulungen und die Diskussionen in Themengruppen mit Gesundheitsfachkräften und Gruppen zur psychosozialen Unterstützung von durch Gewalt gefährdeten Frauen wurden von Union Sakhli, einer zivilgesellschaftlichen Organisation in Georgien, durchgeführt. Das Projekt macht sich die Erfahrungen von Überlebenden häuslicher Gewalt zunutze und hat mittlerweile genügend Gesundheitspersonal zur Versorgung von über 300 000 Patienten geschult und so besser darauf vorbereitet, künftig Anzeichen von Gewalt zu erkennen.
Die WHO unterstützt einen Dialog zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft und dem georgischen Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales, der durch Erkenntnisse über die Folgen der Pandemie auf verschiedene Bevölkerungsgruppen, wie etwa die Überlebenden häuslicher Gewalt, politische Entscheidungsprozesse beeinflussen soll. Die Ergebnisse aus dem Projekt wurden dem Ministerium im September 2021 präsentiert. Das Projekt ist Teil einer Initiative von WHO/Europa für mehr Bürgerbeteiligung, die in acht Ländern der Europäischen Region die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung gegenüber gesundheitlichen Notlagen stärken soll.
Ein weit verbreitetes Phänomen in der Europäischen Region
Nach Datender WHO wird etwa eine von drei Frauen in der Europäischen Region im Laufe ihres Lebens Opfer physischer oder sexueller Gewalt durch einen Partner oder andere Personen. Ein Großteil der Gewalt wird von Intimpartnern ausgeübt: So berichten ein Viertel der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Partner erlebt zu haben.
Wie aus einem neuen Bericht des WHO-Regionalbüros für Europa hervorgeht, haben die erhöhte Stressbelastung während der Pandemie, die Folgen von Lockdowns und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Familien Frauen noch stärker der Gewalt durch Intimpartner und damit verbundenen Risiken ausgesetzt und gleichzeitig ihre Möglichkeiten, Hilfe zu suchen, eingeschränkt.
Psychosoziale Unterstützung
Union Sakhli hat vier Hilfegruppen für die psychosoziale Unterstützung gewaltgefährdeter Frauen betrieben. Eine 45-jährige Teilnehmerin erklärte die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit so: „Es fühlt sich so an, als ob wir unter einer ständigen Belastung aufgrund der Ungewissheit über die Zukunft stehen, und während der Pandemie haben Falschinformationen noch für mehr Angst gesorgt. Die Gruppensitzungen waren sehr hilfreich und haben uns vermittelt, wie man besser mit Stress umgehen kann. Diese Art von Unterstützung ist notwendig, und was ich da gelernt habe, hat sich mir eingeprägt.“
Eine 59-jährige Frau sagte: Die Gruppensitzung war eine wirklich gute Gelegenheit, aus der Isolation auszubrechen und ein Ziel vor Augen zu haben.“
Die Anzeichen häuslicher Gewalt erkennen
Die Gesundheitsberufe können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, von Gewalt bedrohte Frauen zu unterstützen. Union Sakhli hat sich mit der EVEX Medical Corporation zusammengetan, einem Zusammenschluss aus 33 Krankenhäusern in sechs Regionen Georgiens, um ihre Kompetenz auf diesem Gebiet auszubauen.
„Wir haben die Bedürfnisse und Probleme der Opfer häuslicher Gewalt erkannt: mangelnder Zugang zu Hilfsangeboten, einschließlich Impfmaßnahmen, die Beschränkung von Verkehrsmitteln während des Lockdowns, Schwierigkeiten beim Zugang zu Hygieneprodukten und die ökonomischen, psychosozialen und sicherheitsmäßigen Probleme“, sagt Luka. Er fügt hinzu: „Jetzt können wir uns ein besseres Bild von den komplexen Herausforderungen machen, vor denen die Opfer von Gewalt stehen.“
In den Themengruppen im Rahmen des Projektes kamen auch die Belastungen zur Sprache, denen die Gesundheitsberufe während der Pandemie oft ausgesetzt sind. Einige Teilnehmer gaben an, aufgrund der längeren Arbeitszeiten sowohl am Arbeitsplatz selbst als auch zuhause verstärkt der Bedrohung durch Gewalt ausgesetzt zu sein. Auch Personalmangel führe zu emotionalen und psychischen Belastungen und zu einem Gefühl des Ausgebranntseins, ohne nennenswerte Möglichkeiten zur Inanspruchnahme psychosozialer Angebote.
Die Initiative für zivilgesellschaftliche Organisationen in der Europäischen Region
Mit der von WHO/Europa gestarteten Initiative für zivilgesellschaftliche Organisationen werden neue Bottom-up-Ansätze erprobt, die der Bevölkerung ein Mitspracherecht bei Plänen geben, die Auswirkungen auf ihr Leben haben, und ihre Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen gewährleisten sollen. Die Initiative trägt namentlich zur Bekämpfung von COVID-19 bei, indem sie auf eine Stärkung der Bereitschaft und Widerstandsfähigkeit der Bürger in Bezug auf Notlagen, eine Anbindung schutzbedürftiger Gruppen an Leistungsangebote und eine inklusivere Gestaltung der Regierungsarbeit abzielt. Georgien ist eines von insgesamt acht Ländern der Europäischen Region und 40 Ländern weltweit, die solche Lösungsansätze erproben.