WHO/Europe
Living with long COVID
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Mindestens 17 Millionen Menschen in der Europäischen Region der WHO hatten in den ersten zwei Jahren der Pandemie mit Long COVID zu kämpfen; Millionen werden möglicherweise über Jahre hinweg damit leben müssen

WHO/Europa bittet die Länder eindringlich, das Post-COVID-Syndrom ernst zu nehmen und dringend in entsprechende Forschung, Genesung und Rehabilitation zu investieren

13 September 2022
Media release
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Tel Aviv, 13. September 2022

Eine neue Modellierung, die vom Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) an der medizinischen Fakultät der University of Washington in den USA für WHO/Europa erstellt wurde, zeigt, dass in den ersten zwei Jahren der Pandemie mindestens 17 Millionen Menschen in allen 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO mit dem auch als „Long COVID“ bezeichneten Post-COVID-Syndrom zu kämpfen hatten. Mit anderen Worten: geschätzt 17 Millionen Menschen erfüllten in den Jahren 2020 und 2021 die der WHO für einen neuen Fall von Long COVID mit einer Symptomdauer von mindestens drei Monaten.

Die Modellierung deutet auf einen erschütternden Anstieg neuer Long-COVID-Fälle um 307% zwischen 2020 und 2021 hin, angetrieben durch den rapiden Anstieg der bestätigten COVID-19-Fälle ab Ende 2020 und im gesamten Verlauf des Jahres 2021. Darüber hinaus legt die Modellierung nahe, dass Frauen zweimal so häufig an Long COVID erkranken wie Männer. Ferner steigt das Risiko dramatisch bei schweren COVID-19-Fällen, bei denen eine Krankenhauseinweisung erforderlich ist. In diesen Fällen besteht bei jeder dritten Frau und jedem fünften Mann die Wahrscheinlichkeit einer Long-COVID-Erkrankung.

„Auch wenn wir noch viel über Long COVID lernen müssen, insbesondere, wie sich die Erkrankung bei geimpften im Vergleich zu ungeimpften Populationen manifestiert und inwiefern sie sich auf Reinfektionen auswirkt, unterstreichen diese Daten die dringende Notwendigkeit eingehenderer Analysen sowie verstärkter Investitionen, Unterstützung und Solidarität mit jenen, die an diesem Syndrom leiden“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Millionen von Menschen in unserer Region, die sich von Europa bis nach Zentralasien erstreckt, leiden selbst viele Monate nach ihrer ursprünglichen COVID-19-Infektion noch an belastenden Symptomen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie weiter im Stillen leiden. Regierungen und Gesundheitspartner müssen sich zusammenschließen, um gemeinsam auf Grundlage von Forschung und Evidenz Lösungen zu finden.“

„Die Forschungsarbeiten des IHME zeigen, dass fast 145 Millionen Menschen auf der ganzen Welt in den ersten zwei Jahren der Pandemie unter einem der drei Symptomcluster von Long COVID litten: Müdigkeit verbunden mit körperlichen Schmerzen und Stimmungsschwankungen, kognitive Probleme sowie Kurzatmigkeit. Wenn wir jetzt einen Blick auf die heutige Situation werfen, leiden nach wie vor Millionen von Menschen an den anhaltenden Folgen von COVID-19 für ihre Gesundheit und ihre Existenz“, erläuterte Dr. Christopher Murray, Direktor des IHME, eines von 800  WHO-Kooperationszentren. „Genau zu wissen, wie viele Menschen von diesem Syndrom betroffen sind und für wie lange, ist für Gesundheitssysteme und staatliche Stellen wichtig, um Rehabilitations- und Unterstützungsangebote zu entwickeln. Auch für Arbeitgeber ist ein besseres Verständnis der Erkrankung von zentraler Bedeutung, um auf die speziellen Bedürfnisse von Betroffenen eingehen zu können, die durch die Erkrankung eingeschränkt sind.“

Die Bezeichnung „Post-COVID-Syndrom“ oder „Long COVID“ bezieht sich insgesamt auf die Konstellation langfristiger Symptome, die einige Menschen nach einer COVID-19-Infektion entwickeln. Während die meisten Menschen, die sich mit COVID-19 infizieren, vollständig genesen, entwickeln Schätzungen zufolge etwa 10–20% verschiedene mittel- und langfristigen Folgen wie Müdigkeit, Atemnot und kognitive Funktionsstörungen (etwa Verwirrung, Vergesslichkeit oder mangelnde Konzentrationsfähigkeit und mangelnde geistige Klarheit). Darüber hinaus kann sich Long COVID sowohl direkt als auch indirekt auf die psychische Gesundheit auswirken. Das lang anhaltende Leiden und die Ängste infolge von Long COVID können sich auf das psychologische Wohlbefinden auswirken. Diese Symptome können nach der ursprünglichen Erkrankung andauern oder nach der Genesung entstehen. Sie können kommen und gehen oder mit der Zeit wieder auftreten. Die Erkrankung kann sich auf die Fähigkeit auswirken, alltägliche Aktivitäten zu verrichten, wie etwa einer Arbeit nachzugehen oder Hausarbeiten zu erledigen. 

Um unsere Wissenslücken zu schließen und für Menschen mit Long COVID einzutreten, hat WHO/Europa heute eine offizielle Partnerschaft mit Long COVID Europe bekanntgegeben, einer Netzwerk-Organisation, die sich aus 19 Patientenverbänden aus Mitgliedstaaten in allen Teilen der Europäischen Region zusammensetzt.

WHO/Europa hat seit September letzten Jahres eine laufende Kooperation mit Long COVID Europe. So war das Netzwerk 2021 an der 71. Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa beteiligt und wird auch in diesem Jahr an der 72. Tagung in Tel Aviv (Israel) dabei sein.

Ann Li, Vorsitzende von Long COVID Europe, die selbst an Long COVID erkrankte, schildert ihre Erfahrungen: „Mein Mann und ich haben uns im März 2020 mit COVID-19 infiziert. Ich habe keine klaren Erinnerungen an diese Zeit, was meinen Ärzten zufolge vermutlich auf einen Sauerstoffmangel zurückzuführen war, aber ich kann mich an die Schmerzen erinnern, die Atemnot, die Müdigkeit und das ständige Bedürfnis zu schlafen. Das Schlimmste für mich war das anhaltende Gefühl von „Nebel im Kopf“ oder „brain fog“. ... Eine Weile lang konnte ich nicht einmal richtig sprechen. Ich konnte nur sehr langsam sprechen, da es mir unglaublich schwerfiel, Sätze in meinem Kopf zu bilden.“

„Wir sind so dankbar für diese offizielle Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation“, führt Frau Li fort. „Durch die Ergreifung von Maßnahmen im Hinblick auf Long COVID und die Zusammenarbeit mit Long COVID Europe beweist WHO/Europa die erforderliche Führungsstärke, um in Krisenzeiten Lösungen zu finden – und dies ist in der Tat eine Krise.“

Long COVID Europe und WHO/Europa haben zusammen drei Ziele entwickelt – die 3 Rs – und fordern gemeinsam Regierungen und Gesundheitsbehörden dazu auf, ihr Augenmerk auf Long COVID und die daran erkrankten Menschen zu richten und zwar durch verstärkte:

  • Anerkennung (Recognition) und einen verstärkten Wissensaustausch sämtliche Dienste werden angemessen ausgestattet und kein Patient wird alleine gelassen oder muss durch ein System navigieren, das nicht darauf vorbereitet oder nicht in der Lage ist, diese stark beeinträchtigende Erkrankung anzuerkennen;
  • Forschung (Research) und Berichterstattung durch Datensammlung und Fallmeldung sowie eine gut koordinierte Erforschung unter vollständiger Einbindung von Patienten, um ein besseres Verständnis der Prävalenz, Ursachen und Kosten von Long COVID zu entwickeln; und
  • Rehabilitation, die auf Evidenz und Wirksamkeit basiert und sowohl für Patienten als auch für Pflegekräfte sicher ist.

„Um diese Ziele zu erreichen, müssen alle Länder in der Europäischen Region der WHO anerkennen, dass Long COVID ein ernsthaftes Problem mit schwerwiegenden Folgen darstellt und es ernsthafter Maßnahmen bedarf, um zu verhindern, dass sich die Situation für Betroffene noch weiter verschlechtert – und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre körperliche Gesundheit“, erklärte Dr. Kluge. „Wir hören Geschichten über so viele individuelle Tragödien, von Menschen mit finanziellen Problemen, mit Beziehungsproblemen, Menschen, die ihren Job verlieren oder eine Depression entwickeln. Viele Gesundheitsfachkräfte, die im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front ihr Leben riskiert haben, leiden nun infolge einer an ihrem Arbeitsplatz erlittenen Infektion an dieser chronischen und belastenden Krankheit. Sie und Millionen anderer Menschen brauchen unsere Unterstützung. Die Folgen von Long COVID sind eindeutig schwerwiegend und vielschichtig.“

„Niemanden zurückzulassen ist mehr als ein Slogan, und die Menschen mit den Folgen ihrer COVID-19-Infektion alleine zu lassen, während andere ihr Leben weiterleben, ist keine Option“, bemerkte Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder bei WHO/Europa. „WHO/Europa ist entschlossen, eng mit Patientenverbänden für Long COVID, Forschungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden und Regierungen zusammenzuarbeiten, um die diesbezügliche Forschung zu verbessern und zu gewährleisten, dass Patienten auf geeignete Weise durch Gesundheitsangebote bei ihren Rehabilitationsbedürfnissen unterstützt werden.“