2021 hat WHO/Europa in Zusammenarbeit mit Regierungen einen neuen Bottom-up-Ansatz erprobt, um die Bürger in Pläne einzubeziehen, die ihr Leben betreffen, und um zu gewährleisten, dass sie an politischen Entscheidungsprozessen zur Vorbereitung auf Notlagen beteiligt werden.
An der Initiative zur Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen beteiligten sich insgesamt elf solche Organisationen in der Europäischen Region der WHO während der Pandemie, sowohl um Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen und den Gesundheitsbehörden aufzubauen als auch um die Inanspruchnahme von Impfungen gegen COVID-19 sowie andere vorbeugende Maßnahmen zu fördern.
Dr. Dorit Nitzan, Direktorin für gesundheitliche Notlagen bei WHO/Europa, erklärte dazu: „Wir haben die Bedeutung der Schaffung gesellschaftlicher Initiativen erkannt, die der Einbeziehung der Stimme der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse und den Aufbau einer inklusiven Politiksteuerung dienen. Hier geht es um mehr als nur das Knüpfen von Verbindungen. Einmal aufgebaute gesellschaftliche Strukturen können dauerhafte Veränderungen herbeiführen.“
Dank der Initiative konnten etwa 2,4 Mio. betroffene und besonders gefährdete Personen in acht Mitgliedstaaten aus weiten Teilen der Gesellschaft erreicht werden, darunter von häuslicher Gewalt bedrohte Frauen, Kinder mit Behinderungen, religiöse Führer, ältere Menschen, Flüchtlinge und Migranten sowie Roma-Gemeinschaften.
Befähigung der Bevölkerung zu selbstbestimmtem Handeln in Notlagen
Die Beteiligung der Bevölkerung und ihre Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln muss als eine Investition in die Handlungsbereitschaft und Widerstandsfähigkeit der Bürger verstanden werden. Hier konnten dank der Initiative bisher u. a. folgende Erfolge erzielt werden:
- In Nordmazedonien wurden in Roma-Siedlungen drei Bürgerräte eingerichtet, die insgesamt 100 000 Bewohnern ein Mitspracherecht bei der Planung und Reaktion in Bezug auf aktuelle und künftige gesundheitliche Notlagen verschaffen.
- In Kirgisistan wurden ältere Erwachsene mit medizinischer Ausbildung in einen neu gebildeten Rat der Sanitäter aufgenommen, der sich aktiv an der Bekämpfung der Pandemie beteiligen soll. Diese Personen konnten erfolgreich die Impfung von über 18 000 Menschen koordinieren. Eine Gruppe älterer Menschen wurde auch dazu ermutigt, insgesamt 3000 Stoffmasken für die örtliche Gemeinschaft zu nähen und zu verteilen.
- In Serbien wurden Gesundheitsmediatoren dafür geschult, die Bedürfnisse von Flüchtlingen und Migranten besser zu verstehen, um den Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Bereitstellung geeigneter Informationen über COVID-19 zu verbessern.
- In Israel wurden religiöse Führer darum gebeten, die örtliche Bevölkerung zu beeinflussen und mit ihr zu beraten. Dadurch wurden u. a. 12 000 Menschen von der Notwendigkeit einer Impfung gegen COVID-19 überzeugt.
Über die Notwendigkeit der Initiative sagte der angehende Direktor für gesundheitliche Notlagen bei WHO/Europa, Gerald Rockenschaub: „Bei der Bewältigung der Pandemie geht es um die Menschen, um Einzelpersonen. Deshalb ist es so wichtig, kollektiv nach neuen Wegen der Zusammenarbeit zu suchen.“
Zivilgesellschaftliche Organisationen als unverzichtbare Partner beim Aufbau gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit
Die Erfahrung hat gezeigt, dass das Vertrauen und die aktive Unterstützung der Bevölkerung der Schlüssel zur Bekämpfung von Krankheitsausbrüchen und Epidemien sind. Strategien zur Bekämpfung von Epidemien werden von den Bürgern eher unterstützt, wenn sie bei ihrer Gestaltung einbezogen wurden. Außerdem werden mündige Bürger, die an der Notfallvorsorge beteiligt werden, dadurch auch widerstandsfähiger.
Der Erfolg der Initiative zur Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen hat die Schlüsselrolle unterstrichen, die solche Organisationen während Notlagen spielen können, und zwar als:
- Wegbereiter für die Einbindung und Befähigung der Bürger durch ihre Fähigkeit zur Bestimmung der Bedürfnisse der Bürger sowie für die Ermöglichung der Mitgestaltung von Notfallmaßnahmen;
- eine Brücke zwischen (schwer zu erreichenden) Bevölkerungsgruppen und den Gesundheitsbehörden, dank ihrer engen Kontakte zur Bevölkerung und eines tiefgreifenden Verständnisses ihrer Bedürfnisse;
- vertrauenswürdige Mitglieder der Gesellschaft, die sich das Wissen, die Fähigkeiten und die Netzwerke der örtlichen Gemeinschaften zunutze machen und auf physische Einrichtungen wie Besprechungsräume zugreifen können, die in Notlagen von Behörden und Bevölkerung gleichermaßen genutzt werden können.
Die Rolle von WHO/Europa bei der Unterstützung der Zivilgesellschaft während Notlagen
„Die WHO hat eine wirklich entscheidende Rolle gespielt, nicht nur durch Bereitstellung der dringend erforderlichen finanziellen Unterstützung, sondern auch durch Unterstützung unserer Bemühungen mit klaren und verlässlichen Informationen und mit Legitimität“, erklärte Dr. Daniel Roth, Leiter der israelischen Organisation Mosaica – Religion, Gesellschaft und Staat.
Da die Pilotphase der Initiative im Dezember 2021 ausläuft, hat WHO/Europa ein regionsweites Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen gegründet, das für einen dauerhaften Dialog mit der Zivilgesellschaft und den Austausch von Wissen, bewährten Praktiken und Fähigkeiten im Bereich der Notfallvorsorge und -bewältigung sorgen soll.